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Archiv-Artikel

KLAUS WOWEREIT BLICKT ZURÜCK: ZUM GLÜCK HAT ER DAMALS DEN SCHOKOLADEN SCHLIESSEN LASSEN Endlich eine Subkultur, um die man Berlin selbst in Nordkorea beneidet

LIEBLING DER MASSEN

Und hiermit erkläre ich den neuen Schokoladen für eröffnet“, krächzt Klaus Wowereit, während ihm eine Pflegerin blitzschnell den zusammen mit den Worten hervorgemümmelten Möhrenbrei aus den grauen Stoppeln wischt, bevor die Kamera der „Berliner Abendschau“ zu dicht an das Malheur heranzoomen kann. Doch die Augen des Regierenden blicken auch noch in seiner 17. Amtsperiode so wach und listig wie eh und je.

Die komplett versammelte alternative Szene Berlins klatscht Beifall: zwei Bankfilialleiter mit vergleichsweise coolem Schlips, ein Kinderpornohändler, der laut Verfassungsschutz in seiner Jugend mal an einer selbst gedrehten Zigarette gezogen haben soll, der Urenkel von Fliesen-Friedrich sowie die drei Mann hoch geschlossen angetretene FDP-Fraktion. „Früher fand ich die ‚Szene‘ ja viel anstrengender“, denkt Wowereit zufrieden, „immer haben die laute Musik gemacht und sich wie die Zecken an ihren Räumlichkeiten festgekrallt. Viele waren auch schlecht frisiert und haben nach Bier gestunken. So ist das doch viel besser hier.“

Wohlwollend streift sein Blick über adrette Mittelscheitel und leere, glatt rasierte Gesichter. Um die Subkultur beneidet man Berlin inzwischen selbst in Nordkorea: ein gleichgeschaltetes Nichts, von dem keinerlei unangenehme Überraschungen mehr drohen.

Früher musste er ja noch gute Miene zum bösen Spiel machen, sonst hätten sie ihm seine ganzen Lügen zurück in den Mund gestopft: die „Arm, aber sexy“-Lüge, die „Aufregende Stadt“-Lüge, die „Die Off-Kultur ist unser größtes Kapital“-Lüge, die „Jugend der Welt“-Lüge, die Tourismuslüge, all den ganzen Schmu. Wowereit schüttelt sich vor Ekel. Unglaublich, was einem Politiker zugemutet wird, nur weil er sich opportun verhalten muss, um Wahlen zu gewinnen. Gesprächstermine mit Menschen (so musste er sie damals zumindest offiziell noch nennen), bei denen er wegen der verlausten Dreads oft nicht wusste, wo vorne und wo hinten war. Manchmal sogar während wichtiger Modenschauen, der Berlinale oder der Bread & Butter. Wie krank war das denn?

Und er musste auch noch so tun, als wäre der Blödsinn Chefsache, eine Leitlinie, die der Stadt angeblich guttat: Künstler, Kreative, junge Touristen und so – zwinker, zwinker, knick, knack. Was für ein Dreck! Fast hätte ihm der Zwiespalt ein übles Geschwür verpasst, hätte er den Magen nicht immer ordentlich mit Champagner gespült. Auch stützten ihn seine besten Freunde: Frank Henkel, Heidi Klum, Jette Joop und Nana Mouskouri, bis sich in der Stadt endlich das Klima änderte.

Gut verdienende Erholungssuchende entdeckten „Bad Berlin“, wie es von Immobilienmaklern und Privatkrankenkassen zunächst noch fälschlich angepriesen wurde, für sich. Die Ruhebedürftigkeit nahm zu, das kritische Potenzial wurde ausgehöhlt und unterspült, ein Klub und Kulturort nach dem anderen verschwand auf Nimmerwiedersehen, zuletzt auch noch der Schokoladen.

Die Zecken, die man nun endlich so beim Namen nennen konnte, verschwanden in aufregendere Orte wie Königs Wusterhausen oder Zerpenschleuse, bis auch dort das Dorfgasthaus schloss, zermürbt von den Ruhestörungsklagen der ins Umland gezogenen Berliner. In Berlin selbst hielt es nämlich schon nach kurzer Zeit keiner mehr aus. Ganz davon abgesehen, dass kaum einer mehr die erhöhten Mieten bezahlen konnte. Was wollte man noch in einer Stadt, in der das aufsehenerregendste Schauspiel die nachts durch leere Straßen treibenden Tumbleweeds waren.

Geld war weniger denn je vorhanden, denn auch die Touristen blieben natürlich weg, bis auf die Reisegruppen aus Kasachstan, die sich hier vom vergleichsweise aufreibenden Nacht- und Partyleben in ihrer Heimat erholen wollen. Geblieben war nur Wowereits Klientel, insgesamt noch 20.000 Einwohner. Er würde immer wieder gewählt werden. Sein Plan war aufgegangen.

Zu dem gehörte ursprünglich auch das Versprechen, den Schokoladen andernorts weiterleben zu lassen. In einer Form natürlich, wie sie ihm behagte. Chefsache eben. „Der neue Schokoladen im Mariendorfer Hundsteinweg ist echt die Wucht in Tüten“, freut sich der Bürgermeister fast wie ein Jugendlicher. Gemeinsam mit seinen Eröffnungsgästen lässt er sich von der Schwester ins umgewidmete 50er-Jahre-Reihenhaus schieben, in dem die ersten Veranstaltungen bereits angelaufen sind: Was für eine Freude, den Senioren beim Origami-Kurs zuzusehen! In einem Nebenraum klimpert eine grauhaarige Matrone ungelenk auf der Harfe. Klaus Wowereit hat Tränen in den Augen. Er ist doch schließlich auch nur ein Mensch.

■ Uli Hannemann liest jeden Dienstag um 21.30 Uhr bei „LSD – Liebe statt Drogen“ im Schokoladen, der am 22. Februar geräumt werden soll