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KI und GesellschaftSmartphone im Lendenschurz

Einerseits großer technischer Fortschritt, andererseits alte gesellschaftliche Strukturen: Es ist Zeit, aus diesem grotesken Widerspruch auszubrechen.

Großer technischer Fortschritt tirfft auf alte und auch reaktionäre gesellschaftliche Strukturen Foto: K. Steinkamp/picture alliance

S eit gut fünf Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema Utopie – mit Visionen, Erzählungen, Tagträumen – in Zusammenhang mit einem Roman, der zufälligerweise genau am heutigen Tag erscheint. Entlang des Weges bin ich immer wieder gefragt worden, wieso es Utopien überhaupt brauche. Die Antwort fällt mir schwer, denn es ist keineswegs einfach, das Selbstverständliche jemandem zu erklären, dem es nicht einleuchtet.

Die beste Erklärung, die mir zur Verfügung steht, lautet: Weil wir in einer paralysierten Gegenwart leben, in der technologischer Fortschritt und sozialpolitische Entwicklung extrem auseinanderklaffen. Während die digitalen, kybernetischen und biochemischen Innovationen uns mit ihrer exponentiellen Dynamik fordern und überfordern, verharren wir in unseren ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen überwiegend im 19. Jahrhundert.

Wir haben im Geschichtsunterricht gelernt, dass die Industrialisierung das Erstarken des Bürgertums und die Herausbildung der repräsentativen Demokratie vorantrieb. Die jetzige technologische Revolution hingegen soll zwar grundlegende Auswirkungen auf Denken und Sprechen, auf Wahrnehmung und Kommunikation haben, nicht aber auf die gesellschaftliche Organisation?

Wie kann das angehen? Unsinnige Widersprüche allerorten: Einerseits globale Vernetzung von Menschen, Handelswegen und Produktionsabläufen, andererseits ein verstärktes Beharren auf dem Nationalstaat. Eine Ministerin forderte vor Kurzem einerseits, Schulkinder früher auf das Berufsleben vorzubereiten, gleichzeitig malt eine alarmistische öffentliche Diskussion die künstliche Intelligenz an die Wand, die uns bald zu ersetzen drohe. Wie geht das zusammen?

Einerseits-Andererseits

Einerseits kennen wir seit einem halben Jahrhundert die offensichtlichen Grenzen des Wachstums, andererseits verharren wir in einem wachstumssüchtigen Kapitalismus. Ganz zu schweigen von horizontalen Netzwerken und vertikalen Hierarchien, von Frauenrechten und altherrischen Patriarchen, von demokratischen Versprechen, die sich in einer oligarchischen Konzentration des Vermögens erfüllen.

Befreiung von penetrant stupider Arbeit durch ein Miteinander mit künstlicher Intelligenz

Einerseits haben wir in den vergangenen fünfzig Jahren unser Bruttosozialprodukt verdoppelt, andererseits soll es jetzt nicht mehr ausreichend Geld für Förderungen geben, die früher problemlos getragen wurden?

Unsere Technik ist futuristisch, unsere Gesellschaft trägt retro. Wir tragen im Lendenschurz das Smartphone zur Schnäppchenjagd. Der Ausweg liegt im utopischen Denken, in einem Entflammen der politischen Fantasie, um uns selbst aus dem Schlaf der Selbstgerechten aufzuwecken.

Nervengift in den Adern der Gesellschaft

So wie im 19. Jahrhundert zunächst die frühen Sozialutopisten (Babeuf, Saint-Simon, Fourier), gefolgt zum einen von Marx und Engels, zum anderen von Bakunin und Proudhon, später von Bertha von Suttner, Emma Goldman und Rosa Luxemburg (und vielen anderen mehr) gegen Ende des Jahrhunderts die entstehenden Strukturen einer kritischen Analyse unterwarfen und radikale Alternativen entgegensetzten.

Was wir heute an Ansätzen von Gemeinwohl und Gerechtigkeit genießen, was wir an Gleichberechtigung auf verschiedenen Ebenen errungen haben, verdanken wir solchen Visionären und den von ihnen inspirierten sozialen Bewegungen.

Heute hingegen herrscht allerorten das Dogma der alternativlosen Zerstörung der Natur sowie der Ausbeutung des Menschen (insbesondere im Globalen Süden). Ein Nervengift, das in die medialen Adern der Gesellschaft gespritzt wird. Sodass unser öffentliches Leben zunehmend den Mad-Max-Filmen ähnelt: Reaktionäres neben Revolutionärem, aber nur in der Technologie. Ein Feudalherr an der Spitze eines High-Tech-Konzerns! Deep Learning als Instrument der Verblödung.

Aus der kreisenden Gegenwart ausbrechen

Dies sind Zeiten, in denen selbst die öffentlich-rechtlichen Rundfunkhäuser in einer perversen Missachtung ihres Auftrags alles Anspruchsvolle und Kritische zusammenstampfen wollen, bis zwischen Himmel und Hölle nichts anderes mehr jingelt als der Lounge-Sound der Verdummung. Es ist Zeit, durch die Radikalität des utopischen Denkens aus dieser immer enger um sich selbst kreisenden Gegenwart auszubrechen – in die Versprechen einer wahren Zukunft.

So könnten wir etwa ein partnerschaftliches Miteinander mit der künstlichen Intelligenz konzipieren, bei dem unsere Mitmenschen von penetrant stupider Arbeit befreit werden. Einerseits soll der Homo sapiens die Krone der Schöpfung sein, versehen mit unveräußerlichen Menschenrechten – andererseits sitzt er oder sie zugerichtet an der Kasse und schiebt den ganzen Tag Gegenstände über ein Barcodelesegerät.

Das System der Warenauszeichnung ist komplex entwickelt (wer von uns könnte schon souverän erklären, wie es genau funktioniert), der alltägliche Beitrag der dort Arbeitenden hingegen besteht aus einem Handgriff, der schon dem Steinzeitmenschen zu primitiv vorgekommen wäre.

Verschulung statt Exzentrik

Statt in unseren Kindern zu fördern, was den Menschen auszeichnet – Kreativität und Empathie, Originalität und Exzentrik –, nimmt die Verschulung zu, bei gleichzeitig abnehmendem Bildungsanspruch, so als wollten wir, dass uns die künstliche Intelligenz in ihren Fähigkeiten noch schneller überholt.

Denn die Ausbildung von kritischen, solidarischen und fantasiebegabten Wesen würde die utopischen Energien verstärken, um endlich nach Modellen des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu suchen, die unseren technologischen Möglichkeiten entsprechen – und die das überwinden, was heute sowohl destruktiv als auch ungerecht ist.

Es geht um nichts Geringeres als eine postkapitalistische Wirtschaft, ein egalitäres Miteinander, eine partizipative regionale Demokratie, ein Überwinden von Hierarchien, die keinen anderen Zweck erfüllen, als bestehende Privilegien zu zementieren.

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2 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Sehr guter Artikel!!



    Das hat mich schon mein Leben lang total genervt, das sehr viele Menschen keine Fantasie mehr haben und das schon seit mehreren Jahrzehnten!! Das schönste Kompliment was mir mal gemacht worden ist (in den 80er Jahren!), war: Musst du denn über Alles Nachdenken! JAAAAAAAAAA muss ich und will ich auch, denn nur so kann ich überhaupt nur eine Ahnung / Vorstellung von dem bekommen worüber ich jeweils nachdenke. Es existiert ja kein Phänomen oder Situation etc. für sich alleine. Es ist immer in einem Zusammenhang mit "Anderem" - worin immer es besteht.



    Also kurz und gut: Kein Mensch kann über etwas nachdenken oder etwas entwickeln ohne Fantasie und genau die trainieren wir Menschen uns zusehends ab! Genau dafür brauchen wir die alten Medien wie Bücher, von Hand schreiben und einfach mal in Gedanken versinken! Das geht aber alles nur ohne Handy, PC oder sonstigen technischen Krams! Wir sind analoge Wesen und brauchen auch immer wieder analoge Medien und Reize wie ein Waldspaziergang. Und fangt wieder an so rum zu spinnen, wie wir es als Kind gemacht haben. Denn das fördert die Fantasie und bringt unser Gehirn auf Trap. Es ist wie beim Muskelaufbau, wer sie gebraucht bekommt stabilere und stärkere Muskeln bzw. ein besseres und schnelleres Gehirn. Also träumt los - aber auch mit Wissen und Logik versehen. Viel Spaß dabei. :-)

  • Danke!!!