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KARL K . KITCHEN

■ BERLINER NACHMITTAG

Es ist fünf Uhr nachmittags und der riesige Sommergarten nahe der Siegessäule im Tiergarten ist mit Tausenden Berlinern gefüllt, die entweder Kaffee trinken oder zu der Musik einer Jazz-Band tanzen, die sich mit einem ausgezeichneten Orchester, das ebenfalls hier spielt, abwechselt. Ich sage mit Vorbedacht Tausende von Besuchern, denn der Kroll-Garten, wie dieses Garten-Restaurant genannt wird, hat Plätze für 6.000 Personen, und jeden Nachmittag bei gutem Wetter ist er überfüllt, denn es ist der beliebteste Punkt in Berlin, um Kaffee zu trinken.

Wie in allen anderen großen Gaststätten, die für das allgemeine Publikum betrieben werden – der Krollgarten wie auch das Restaurant im Zoologischen Garten sind zwar unter privater Leitung, aber unter genauer städtischer Aufsicht sind die Preise hier sehr niedrig. Das Eintrittsgeld beträgt eine halbe Mark (12 cents) und für diese Summe können Sie an einem Tisch in einem der schönsten Garten-Restaurants der Welt sitzen, tanzen, wenn Sie wollen, oder für Stunden klassischer Musik lauschen, die von einem Orchester von 60 oder 70 Musikern ausgeführt wird. Die Terrassen auf allen Seiten sind von riesigen Bäumen umgeben, denn der Tiergarten übertrifft jeden Park irgendwo in der Welt an Schönheit und Dichte seines Baumbestandes. Für eine kleine Summe können Sie einen Kaffee und eine Platte mit den verschiedensten Arten von Kuchen haben, die in so enormen Quantitäten in Deutschland zwischen 4 und 6 Uhr vertilgt werden. Und dieser Sommergarten ist nur einer von der großen Anzahl ähnlicher Etablissements in und um Berlin, wenn auch wahrscheinlich der schönste und populärste.

Dieser Teil des Lebens unter freiem Himmel, den man in Amerika kennt, interessiert nicht nur für sich selbst, sondern auch aus dem Grund, weil er erklärt, warum Filme das deutsche Publikum nie in dem Maße zu fesseln vermöchten wie in Amerika. Wenn man im Freien, in schönster Umgebung sitzt und sich wirklich gute Musik anhören kann, wen zieht es dann noch danach, in einem dunklen, heißen Theater zu sitzen, besonders da das Erstere billig ist, das letztere aber wirklich teuer? In Berlin öffnen die Kinos ihre Türen sogar nicht einmal vor 5.15 Uhr nachmittags und die erste der drei Vorstellungen geht, besonders im Sommer, vor leeren Bänken vor sich.

Diese Fortsetzung der Artikelserie „Deutschland 12 Jahre nachher“ des amerikanischen Journalisten Karl K.Kitchen erschien am 31. Oktober 1930 im 'New Yorker Sun'.

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