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K O L U M N E Z U R W A H LNoch ein paar Tage

■ Die Wahl - eine Betrachtung des Schriftstellers Jurek Becker

Es hat keinen Sinn, enttäuscht von denen zu sein, die in wenigen Tagen für ein voraussehbares Wahlergebnis sorgen werden. Niemand wird aus Schlechtigkeit sein Kreuzchen an eine bestimmte Stelle setzen, und nicht aus Leichtsinn und nicht aus Unachtsamkeit; immer wird es auf der Höhe der Erkenntnis des jeweils Ankreuzenden geschehen. Dafür jemandem einen Vorwurf zu machen, das wäre so, als wollte man einer Kugel vorwerfen, daß sie keine Kanten hat. Linke Parteien (ich meine solche, die den Zustand der Gesellschaft ernstlich verändern wollen) versuchen in aller Regel, mit Hilfe von Argumenten in den Besitz der Wählerstimmen zu gelangen. Das ist ihr Verhängnis, denn sie agieren in einer Welt, in der das Werben mit Argumenten als Belästigung empfunden wird. Entweder du siehst gut aus und hast das gewisse Etwas, dann brauchst du keine Argumente, oder du fängst zu argumentieren an: dann stimmt irgendwas nicht mit dir. Die anderen, die Rechten, haben es unendlich leichter. Ihre Pläne sind von einer Art, daß sie sich nicht etwa gemeinsam mit möglichst vielen politisch aufgeklärt Handelnden verwirklichen lassen, sondern nur über möglichst viele Unaufgeklärte hinweg. Leute, die sich für ohnmächtig halten, dabei aber in einem Zustand leben, der sich um vieles schlimmer vorstellen ließe, sind autoritätsgläubig. Leute, die eine Gesellschaft oder den Staat für eine Art Naturereignis halten, das sich nach undurchschaubaren Regeln und unabhängig vom Willen der Beteiligten vollzieht, wählen rechts. Die Konservativen kennen Methoden, diese Personen, den sogenannten Souverän, hinter sich zu bringen, und niemand kann sie ihnen nehmen. Je oberflächlicher man sich mit einer Materie befaßt, je konsequenter man auf Emotionen und nicht auf Erkenntnisse aus ist, um so besser kommt man zu Parolen, die leicht erlernbar, also leicht nachsprechbar und werbewirksam sind. In jedem Kopf findet sich Platz für Vokabeln wie „Freiheit“, „Menschenrechte“, „Sicherheit“, „Zukunft“. Wenn die einmal an der richtigen Stelle sitzen, braucht kein Wort weiter verloren zu werden: All das ist gut und erstrebenswert, und jeder weiß, wer sich für solche Ziele abrackert. Wahlen sind so wohl Ereignisse, die für die Konservativen meist günstig und für die Veränderer meist ungünstig ausgehen. Es kann zwar geschehen, daß besondere Ereignisse zu vorübergehenden Abweichungen von der Regel führen: Hätte sich etwa die Sandoz–Sache zufällig zwei Tage vor den Wahlen ereignet, hätte sie den Grünen fünf Prozent eingebracht, zwei Monate vorher noch zwei Prozent usw. Wenn aber Wahlen zu grundlegenden Veränderungen führen könnten, würde es wahrscheinlich gar keine geben. Jurek Becker

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