Jungen die zu Männern werden: Wenn Mutti die Beste ist
Ob nun an Mamas Rockzipfeln, im Kindergarten oder in der Grundschule - Jungen wachsen noch immer hauptsächlich von Frauen umgeben auf. Ob das ohne Folgen bleibt?
Muttersöhnchen, Weicheier, Nesthocker und Ödipussis - die Klischees über Männer, die von Frauen großgezogen werden, sind so weit bekannt. Und was haben wir nicht gelacht über all diese bemitleidenswerten Pullunderträger, die hilflos durchs Leben stapfen: vom gehemmt sofasitzenden Loriot bis zum gequälten Woody Allen, dem in einem seiner Filme die Mutter sogar überdimensional am Himmel von New York erschien und, für die ganze Stadt hörbar, peinliche Kindheitsanekdoten über ihn ausplauderte. Schön und gut. Aber was ist dran am Klischee? Und steckt womöglich ein Körnchen Wahrheit dahinter?
Mal ehrlich - die Frauen herrschen noch immer unangefochten in Kinderzimmer und Hort, in der Kita und im Kindergarten. Und natürlich auch in der Grundschule. Oft dauert es bis zum Gymnasium, bis der Sohn einer alleinerziehenden Mutter endlich einmal eine männliche Autoritätsperson vor sich hat - wenn nicht schon vorher ein Fußballtrainer eingesprungen ist. Und selbst in intakten Familien bleibt der berufstätige Vater oft nur eine Randfigur, verdrängt von einer ganzen Armada von Schwestern, Tanten, Babysitterinnen und Lehrerinnen. Allen Vätermonaten zum Trotz.
Kein Problem für die Mädchen, die sich prächtig entwickeln und nach neuen Studienergebnissen nicht nur die besseren Schulnoten auffahren, sondern sich laut Medienberichten auch immer mehr zu "Alphamädchen" mausern, die kräftig an jene gläsernen Wände pochen, die vormals ihre Karrierechancen nach oben begrenzten. Jungen sind dagegen zur neuen Problemgruppe auserkoren worden - schlechte Schüler, prügelnde Rabauken, verwirrt nach dem neuen Männerbild suchend. Tut es also Jungen nicht gut, von so vielen Frauen großgezogen zu werden?
"Ödipus Ratlos" heißt die Filmepisode von Woody Allen ("New
Yorker Geschichten", 1989), in der einem fünfzigjährigen Anwalt seine Mutter überdimensional am New Yorker Himmel erscheint. Allen
selbst war jedoch kein Nesthocker.
Ein Muttersöhnchen der gruseligsten Art ist Norman Bates (Anthony Perkins) in Hitchcocks "Psycho" (1960). Nachdem er seine Mutter umgebracht hat, nimmt er immer wieder deren Identität an und metzelt in Perücke und Rock - ganz in Muttis Sinn - "schmutzige" junge Frauen nieder. Während die Mumie der "Psycho"-Mama im Sessel verstaubt, ist Louise Winkelmann, Übermutter aus Loriots "Ödipussi" (1988), resolut wie eh und je. Telefonisch gibt sie ihrem bereits angegrauten Sohn Paul Tipps für die Zubereitung eines Hefezopfs, den dieser seiner Liebsten zu kredenzen gedenkt, und weiß mit einem strengen "Pussi!" den ersten Kuss der beiden Verklemmten zu unterbinden. "Oidípous Týrannos" heißt Sophokles dramatische Bearbeitung (436-433 v. Chr.) des griechischen Ödipus-Mythos. In Anlehnung an die Figur des inzestuösen Vatermörders entwickelte Freud Anfang des 20. Jahrhunderts den psychoanalytischen Begriff "Ödipuskomplex". SAS
Ja, meint Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann. Das habe sich doch inzwischen sogar schon bis ins Familienministerium herumgesprochen und man versuche, gegenzusteuern. "Das sehen Sie doch allein schon daran, dass die Jungen sich wie die Trauben an jeden Zivildienstleistenden in der Kita hängen - egal wie deprimiert der durch die Gänge geschlurft kommt." Der Grund dafür? Die vorherrschenden weiblichen Erziehungsmethoden. "Heute zielt die Pädagogik ganz auf Verständigung ab, auf Harmonie und Frieden. Das geht Jungen auf die Nerven", sagt Bergmann, Autor des Buches "Kleine Jungs - große Not". Männer hätten eine direkte, wenn auch brummigere Art, mit Kindern zu kommunizieren. Doch das tue gerade Jungen gut. So könne ein verschrobener alter Schreiner mit klaren Anweisungen selbst Hyperaktive zur Ruhe bringen - oft besser als eine Erzieher, die um Verständnis dafür wirbt, dass ein Nagel genau an dieser Stelle und keiner anderen eingeschlagen werden muss.
Jan Müller fühlt sich von der weiblichen Schlagseite in seiner Erziehung nicht geschädigt. "Ich habe eher davon profitiert, dass ich zwischen lauter Frauen aufgewachsen bin", sagt der heute Neunundzwanzigjährige. Seine Mutter, zwei Schwestern, der weibliche Erziehungsapparat und der Vater, der das Haus verließ, als Jan zwölf Jahre alt war - das alles habe ihn geprägt, meint er: "Ich kann die frauliche Perspektive gut einnehmen, besonders im Vergleich zu Machos. Darum kokettiere ich manchmal damit, dass ich zu viele Östrogene habe. Andererseits habe ich aber keine Probleme damit, meine männliche Rolle zu definieren."
Obwohl es für ihn auch nicht immer einfach war. Beim Streit um den Kassettenrekorder bei der Fahrt in den Urlaub war er als Minderheit immer unterlegen und kennt daher - dank der Mehrheit seiner Schwestern - sämtliche "Bibbi Blocksberg"-Kassetten. Als seine Mutter ihm und einer Schwester eine liebevoll handgefertigte Puppe zu Weihnachten schenkt, flippte er aus - "tief in meinem Ego gekränkt", wie er sagt. Und als er mit vierzehn Jahren zum Abschlussball der Tanzschule ging, musste er beim Nachbarn klingeln, um einen Krawattenknoten gebunden zu bekommen.
Sein erstes Vorbild war Lucky Luke, sagt Jan Müller - und später, da habe er sich natürlich diese ganzen Sylvester-Stallone-Filme reingezogen. Sich Projektionsfiguren aus Film und Fernsehen zu suchen ist kein ungewöhnliches Verhalten für Jungen, denen ein guter Draht zum Vater fehlt, so der Düsseldorfer Psychologe Matthias Franz in einer Analyse in der Zeitschrift Psychologie heute. Mit den Blockbuster-Filmreihen "Terminator", "Matrix" und "Star Wars" gebe es sogar eine ganze Reihe von Filmen, die die unbewusste kindlich-männliche Sehnsucht nach einem idealisierten Vater kommerziell abschöpfen: Stets kämpft ein Junge, der seinen Vater früh verloren hat, gegen übermächtige Feinde und Maschinen. Oder aber gegen das Böse selbst. Das heimliche Thema dieser Filme ist laut Franz aber der Umgang mit den eigenen Ängsten - und deren Überwindung mithilfe eines rettenden Dritten.
Solche Vorbilder haben für Patrick Rathke nie eine Rolle gespielt. Er habe sich lieber an seinen Freunden orientiert, sagt der vierundzwanzigjährige Berliner, der als Einzelkind bei seiner Mutter aufwuchs. Seine Geschichte ist der Scheidungsklassiker: Der Vater ging weg, als Patrick drei Jahre alt war, meldete sich erst wieder, als Patrick schon fast erwachsen war - und hinterließ auch dann nicht den besten Eindruck. Trotzdem hat Patrick ihn oft vermisst, "als Person", wie er sagt.
Eine schwierige Situation, weiß Kinderpsychologe Bergmann. Denn nach den ersten Jahren der Mutterliebe fehlt der Vater, um als Dritter dem Sohn dabei zu helfen, sich von der Mutter zu lösen. Hinzu komme, dass viele Söhne alleinerziehender Frauen ihre Mutter durch das eigene Erwachsenwerden auf ganz ritterliche Art und Weise nicht allein lassen wollen - und andererseits auch ein eigenes Leben führen wollen.
Diese nicht aufgelöste starke Mutterbindung ist der Grund dafür, dass sich Männer, die von Frauen großgezogen wurden, noch als Erwachsene fundamental von anderen unterscheiden, so Bergmann. Dass sich die Rolle der Frauen in der Gesellschaft von den Nachkriegstrümmerfrauen über 68er-Feministinnen bis zu berufstätigen Karrieremamas gewandelt hat, spielt dabei kaum eine Rolle, meint er. "Männer mit einer starken Mutterbindung haben oftmals einen narzisstischen Charakter. Sie sind charmant, kommunikativer als andere Männer, haben einen gewinnenden Charakter und stehen schnell im Mittelpunkt." Häufig sind sie beruflich erfolgreich, arbeiten in kreativen Branchen, können ihre Ideen schwungvoll präsentieren - und scheitern dann am konkreten Konzept und der pingeligen Ausführung. "Klinsmann ist so ein Typ", sagt Bermann: sehr visionär, mit der Fähigkeit, sich auch gegen Widerstände durchzubeißen - aber zum dauerhaften Arbeiten wenig begabt und stets gefährdet, sich aufgrund zu starker Ichfixierung zu isolieren. "Quatsch" hingegen sei das Vorurteil, dass frauendominierte Jungen einen stärkeren Hang zur Homosexualität hätten, meint Bergmann, zumal man über deren Herkunft kaum etwas wisse. Zutreffend allerdings sei das Klischee, das aus vielen dieser Jungen Muttersöhnchen werden: stets auf der Suche nach sie umsorgenden Frauen, die alles für sie organisieren.
Ein solches Muttersöhnchen sei er nicht, sagt Patrick Rathke. Ob er ein Frauenversteher sei? Einige Freunde behaupten es - aber wenn, liege es nicht an seiner Mutter. Wenn er darüber nachdenkt, wie ihn diese Erfahrung geprägt haben könnte, fällt ihm als Erstes ein, dass er sich bis heute nicht fürs Fußballgucken interessiert. Und sagt dann plötzlich. "Ich habe mir immer einen kleinen Bruder gewünscht, dem ich den ganzen Scheiß beibringen kann, den ich früher gemacht habe."
Auch Jan Müller sieht sich nicht als Muttersöhnchen. Auch wenn er sich nach der Scheidung seiner Eltern klar auf die Seite seiner Mutter gestellt hat. Auch wenn er zugibt, dass er sich ganz gerne verwöhnen lässt, wenn er nach Hause fährt. "Aber davon profitieren ja beide Seiten." Machos sind ihm aber zuwider - so wie ihm Debatten über die Rolle des neuen Mannes gegen den Strich gehen, trotz oder sogar wegen der vielen Frauen, mit denen er aufgewachsen ist. "Ich muss nicht kämpfen ums Mannsein im Jahr 2008", sagt er. "Ich kann Frauenversteher sein und trotzdem mit den Jungs um die Häuser ziehen - das bringt mich nicht in einen Rollenkonflikt."
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