„Jung, männlich, Linkshänder!“

Wahrheit-Reporter vor Ort: Wie gewiefte Profiler harte Nüsse knacken

„Ditte, meine Herren, ist Anton Hügel. Er versetzt sich in die Gedankenwelt des Serientäters“

Das Absperrband hält die Passanten fern, seine Enden flattern im Novemberwind. Die Polizei hat es um einen Ort gezogen, an dem sonst ohrenbetäubendes Gebrüll erklingt und Arme fachgerecht umgedreht werden. Es ist leer auf dem Kinderspielplatz in Berlin-Friedrichshain, trostlos leer, bis auf diverse Streifenpolizisten, die weiß gekleidete Einheit der Spurensicherung, das irrtümlich herbeigerufene Sondereinsatzkommando, mehrere aufgeregte Schäferhunde und eine Gruppe in Zivil. Wäre da nicht noch der Scharfschütze auf der Rutsche, alle Blicke der Neugierigen ruhten jetzt auf ihr. Unter den Frauen und Männern, die hier ernst zusammenstehen, befindet sich einer der anerkanntesten Profiler Deutschlands, Anton Hügel. Und Anton Hügel – groß gewachsen, schwarzhaarig, blitzende blaue Augen – steht streng genommen nicht, sondern liegt. Bzw. er wälzt sich in der Sandkiste. „Ich werde es wieder tun“, ächzt er, „wieder und wieder.“ Dann springt er plötzlich auf, klopft sich den Sand vom Mantel, ist wie verwandelt: „Der Täter ist jung“, sagt er und sieht Kriminalkommissarin Petra Weser lange an. Sehr lange. „Jung. Weiß. Männlich, Linkshänder.“

Petra Weser nickt knapp und verschränkt die Arme vor der Brust. „Es war richtig, Hügel zu diesem Fall hinzuzuziehen“, erklärt sie uns. Normalerweise koste eine derart brillante Analyse selbst einen modernen Polizeiapparat an die drei Monate. „Was können Sie uns noch sagen?“, fragt sie und fixiert Hügels Gürtelschnalle, während sich ein Streifenpolizistenpaar nähert.

„Einen Moment.“ Hügel legt den Kopf in den Nacken. Er schließt die Augen und atmet tief durch. „Entschuldijung, Kommissarin“, unterbricht einer der grün Uniformierten die Szene, „wollnse noch wat oder …“ – „PSST! Sie stören unseren Profiler!“

Hügel legt Daumen und Zeigefinger der linken Hand zusammen, dann Daumen und Zeigefinger der rechten. Er hebt die Hände auf Ohrläppchenhöhe und fletscht plötzlich die Zähne. Keuchend beißt er in die Luft, rollt mit den Augen. Die Streifenpolizisten wechseln besorgte Blicke, aber schon hat sich die Situation wieder entspannt. Der Profiler lässt die Arme sinken und macht hastig ein paar Schritte in Richtung Schaukel. Petra Weser lächelt triumphierend. „So, Kollegen“, sagt sie und streicht sich durch die blonde Mähne, „worum geht es?“ Die beiden Männer starren sie befremdet an. „Äh, ja … Watt is denn ditte?“

„Ditte, meinen Herren, ist Anton Hügel. Er versetzt sich in die Gedankenwelt unseres Serientäters. Er ist in der Lage, wie dieser zu fühlen.“ – „Sie meinen, der hat so wat ooch schon mal jemacht?“ Petra Weser schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt sie leise und folgt Hügels Weg, „das haben sicherlich noch nicht viele Leute gemacht.“

In der Tat. Sicherlich haben noch nicht viele Menschen Lakritzschnecken entführt und auf so grausame Weise zerstückelt wie im vorliegenden Fall. Das Unbegreifliche geschah immer in „Volker’s Spätkauf“. Der Kioskbesitzer ist trotz psychologischer Betreuung immer noch fassungslos, sein Vertrauen in die Menschheit nachhaltig erschüttert. „Ick weeß nich, wer et jewesen war“, gab er zu Protokoll, „jeda kann et jewesen sein.“ Über 800 Lakritzschnecken haben, unbemerkt von ihm, seinen Laden in den letzten drei Wochen verlassen. Wiedergefunden wurden sie alle in der Sandkiste des Spielplatzes – keine davon in ihrem ursprünglichen Zustand.

Profiler Hügel lehnt an der Schaukel. Er wirkt erschöpft. Kommissarin Weser telefoniert ein paar Schritte abseits. Ist bereits alles geklärt? Hügel fährt mit den Fingern über die Kette des Spielgeräts. „Jung. Weiß. Männlich, Linkshänder und Einzelkind“, sagt er, „ständig übermüdet. Petra hat das eben überprüfen können – sehen Sie, die Kette ist auf dieser Seite viel abgenutzter als auf der rechten. Ein Junge, der gern schaukelt, aber es nicht darf, denn das ist nichts für Jungen. Er geht also spätabends hierher, wenn der Spielplatz leer ist. Niemand vermisst ihn zu Hause. In der Schule lässt er nach, weil ihm der Schlaf fehlt. Und, äh, die Lakritzschnecken erinnern ihn an diese Schaukel, dochdoch, sie erinnern ihn ganz eindeutig an diese Schaukel …“ Wie bitte? „Ja, sicher hat eine Lakritzschnecke nicht das Geringste mit einer Schaukelkette gemein, aber so ist es nun einmal, und auf jeden Fall hat er Schuldgefühle. Er geht also in ‚Volker’s Spätkauf‘, raubt Lakritzschnecken und zerstört sie, um seine Leidenschaft für die Schaukel zu zerstören. Symbolisch, das versteht sich ja von selbst. Und weil seine Schuldgefühle wachsen, muss er immer mehr Lakritzschnecken zerschneiden und zerrupfen und in der Sandkiste begraben. Er hat kein Gefühl für das Böse, er ist nicht wie Sie und ich oder die bezaubernde Frau Weser … er ist ein Psychopath. Nach den Taten schaukelt er, es wird spät, am nächsten Tag kann er sich nicht in der Schule konzentrieren, das muss er durch Schaukeln ausgleichen, dann kommen wieder diese Schuldgefühle …“ Die Stimme des Profilers wird leiser, wenn man erst unter dem Absperrband hindurch ist.

Aufgrund der Faktenlage wurde der siebenjährige Karl S. schon am nächsten Tag auf Lebenszeit in ein geschlossenes Heim überführt.

CAROLA RÖNNEBURG