Jugendweihe: Jetzt sind sie richtig groß
Erwachsen werden wie nach einem alten Filmstoff: Im Blockbuster-Kino an der Landsberger Allee feiern ein paar Jugendliche das Ritual aus vergangenen Ost-Zeiten.
Als die Jugendlichen die Betreuerin sehen, stellen sie sich in Zweierreihen auf. Sie tun das langsam und konzentriert, sie wollen keinen Fehler machen. Noch zwanzig Meter bis zum Eingang des Kinosaals 1, der rappelvoll sein wird mit Eltern, Tanten, Onkeln und Großeltern.
Viele sind blass vor Aufregung an diesem Morgen, sie stecken in Ballkleidern und Anzügen, manch einer trägt zum ersten Mal eine Krawatte. Gleich wird drinnen die "Jugendweihe" beginnen, ihre Jugendweihe: Ob sie so feierlich wird wie die der Eltern? Werden die Großeltern zufrieden sein?
Christian Adam, einer der 58 Jugendlichen, ist von seinem Vater zur Feier beim Verein Jugendweihe Berlin/Brandenburg angemeldet worden. Christian ist 14, ein großer Junge mit wachen Augen, der nicht so wirkt, als ließe er sich etwas vorschreiben. Aber: "Papa hat darauf bestanden." Der Vater hatte zu DDR-Zeiten selbst an der Feier teilgenommen. Fast alle Schüler der 8. Klasse traten damals im Klassenverband zu diesem Initiationsritual an - um auf die sozialistische Gesellschaft eingeschworen zu werden.
Heute steht Christian in seiner Klasse ziemlich allein dar. Besonders populär ist die Jugendweihe an der Europa-Schule in Lichtenberg nicht, nur ein Mitschüler hat sich zu der Feier im Blockbuster-Filmpalast UCI an der Landsberger Allee angemeldet. Wie Christian stammen viele Kinder an der Schule aus deutsch-russischen Familien, in Russland sind solche Übergangsrituale unbekannt.
Im Kinosaal 1 haben sich die Eltern und Verwandten warm geklatscht. Animiert von Komiker Bob Lehmann rutschen sie in ihren roten Samtsesseln hin und her, johlen, stampfen mit den Füßen. "Egal was hier passiert - wir freuen uns immer", ruft Lehmann. Unter dem Applaus rauschen die Jugendlichen die Treppe hinab in den Saal und nehmen in den ersten beiden Reihen Platz: Achtklässler aus Marzahn, Lichtenberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die Schüler kennen einander kaum, der Verein Jugendweihe Berlin Brandenburg bietet zwar ein Freizeitprogramm an, einen Vorbereitungskurs für die Feier gab es aber nicht. 116 Euro haben die Eltern für die Jugendweihe im Kino ausgegeben.
Nach einem Lied des verstorbenen Ostrock-Stars Gerhard Gundermann versucht Lehmann mit den Teenagern warm zu werden: Mit einer "einfachen Frage" nach der Bedeutung der Jugendweihe. Als keiner der Angesprochenen spontan eine Antwort parat hat und die Gäste im Saal allmählich unruhig werden, trägt der Entertainer seine eigene Definition vor. Jugendweihe sei so etwas Ähnliches wie eine Abwrackprämie für abgenutzte Kinder. "Jeld raus - zack boom, die Nächsten."
Zack boom geht es dann auch weiter im Programm. Die Jugendweihe-Rede hält ein honoriger alter Herr mit weißem Haar und rahmenloser Brille, der als Professor Zellmer vorgestellt wird. Biologisch seien die Jugendlichen schon erwachsen, sagt Zellmer. "Auch wenn der Bartwuchs noch auf sich warten lässt oder die Oberweite noch nicht ganz an die Idealmaße von Heidi Klums Supermodels heranreicht." Erwachsen werden habe aber auch etwas mit Verantwortung zu tun: Verantwortung zu übernehmen für sich und andere, Toleranz und Respekt für Mitmenschen aufzubringen und Solidarität mit Schwächeren zu zeigen.
Auf der schmalen Bühne vor der Leinwand nehmen je elf Teenies schließlich ihre Urkunde, Blumen und das Jugendweihebuch "Wunderwerk Erde - unser Planet im Kosmos" entgegen. Lächeln entschlossen in die Kameras, fühlen sich schön in ihren neuen Klamotten. Nach anderthalb Stunden ist die Show vorbei. Die Jugendlichen wirken etwas erschlagen, auch ihre Angehörigen müssen sich erst einmal im Kinofoyer vor den Popcornautomaten sammeln. Maike Wutzler, Schülerin am Lichtenberger Immanuel-Kant-Gymnasium, fand die Veranstaltung okay. Die 14-Jährige wusste, was sie erwarten würde - ihre Cousine hatte schon an einer Feier im Kino in Friedrichshain teilgenommen. "Das Programm war lockerer als bei uns und für die Kinder sicher ansprechender", sagt Maikes Mutter. Früher seien es noch die Pioniere gewesen, die jedem Kind Blumen in die Hand gedrückt hätten.
Das Foyer füllt sich, Maike und ihre Familie nehmen den Aufzug in Richtung Parkhaus. Zu Hause wollen sie mit Freunden im Garten feiern. Im Erdgeschoss des Kinos wartet Kristin Seidel mit ihrer Mutter und ihren Großeltern auf den Rest der Familie. Jugendweihen hätten in ihrer Familie Tradition, sagt sie, und der Großvater nickt zufrieden. "Natürlich gehts auch um Geschenke." Kristins Mutter murmelt etwas von mehr Verantwortung und mehr Pflichten, erinnert sich dann aber an eine einfache Formel. "Es hieß immer so schön: Heiraten kann man öfter, aber Jugendweihe ist einmalig."
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