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■ Jugendgewalt in KreuzbergDurch die völkische Brille gesehen

„Türkische Straßengang überfiel Geburtstagsparty“, meldete die taz im Berlin-Teil am Montag. Rund 30 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 20 Jahren, bewaffnet mit abgeschlagenen Flaschen, Baseballschlägern und Messern, hatten in der Nacht zum vergangenen Samstag die Teilnehmer einer Geburtstagsparty in Kreuzberg überfallen.

Sechs Gäste wurden mit schweren Stich- und Schnittverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Ein junger Thailänder wurde mit einer angespitzten Eisenstange durchbohrt. Nach Augenzeugenberichten sprangen anschließend vier der Randalierer abwechselnd auf den tödlich verletzten jungen Mann und mißhandelten ihn mit Fußtritten.

Ablauf und Brutalität des Gewaltexzesses lassen aufhorchen, ebenso wie die Nähe von Opfern und Tätern. Die Ermittlungsbeamten rieten dem Sohn der Familie, in deren Wohnung die Geburtstagsfeier stattfand, aus Sicherheitsgründen eine Zeitlang unterzutauchen, da er einige Mitglieder der Schlägertruppe bereits seit Jahren kennt.

Dieser barbarische Akt inmitten des lange Jahre geliebten Multikulti-Vorzeigekiezes wirft Fragen auf: Neigt sich die (relativ) friedliche Koexistenz in den Einwanderervierteln dem Ende zu? Ist der Überfall eine Ausnahmehandlung, oder reiht er sich ein in die vermeintlich zunehmende Brutalisierung der Gesellschaft? Ist er ein weiteres Indiz der Abschottung der türkischen Gemeinde?

Tatsächlich aber sind solche Fragestellungen Ausdruck einer Irritation. Woher wissen die Augenzeugen und der taz-Reporter, daß es sich bei den Tätern um 30 Türken und Araber handelte? Haben sie vor dem Überfall ein Bekenntnis ihrer Staatszugehörigkeit geliefert? Da davon nicht auszugehen ist, liegt die Vermutung nahe, daß die Täter durch die völkische Brille als „Fremde“ ausgemacht und nicht als Kinder dieser Gesellschaft gesehen werden. Wie oft mußten sie in ihrem Alltag bereits diese Erfahrung machen, draußen vor der Tür zu stehen? Was, wenn sich nun herausstellt, daß die Mehrheit der Täter, trotz ihres „undeutschen“ Aussehens, deutsche Staatsbürger sind?

Zugegeben, die Fragen machen die Tat nicht besser, zeigen nur, daß auch eine liberale Öffentlichkeit nicht frei davon ist, die Folgen sozialer Desintegrationserscheinungen in ethnische zu übersetzen. Berlin wird nicht von einer Welle der Gewalt „ausländischer“ Jugendlicher heimgesucht.

Zu dem Typus des urdeutschen, nach Dominanz strebenden Jungmachos, der seinen Platz in der Gesellschaft mit Muskelkraft, Autos der gehobenen Mittelklasse und betonter Härte zu erobern sucht, hat sich unübersehbar der „fremdländische“ Prolet gesellt – mit vergleichbaren Ambitionen.

Gewalthandlungen, insbesondere Raubdelikte, die im ersten Quartal 1995 um ein Drittel gegenüber dem Vorjahreszeitraum anstiegen, sind gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt. In der Ostberliner Polizeidirektion VI (Treptow, Köpenick, Lichtenberg), in der sich die nachwachsende Generation fast ausschließlich aus deutschstämmigen Jugendlichen zusammensetzt, wird ebenso häufig zugeschlagen, gestochen und geraubt wie in der Direktion V (Kreuzberg, Neukölln), wo die Kinder aus Einwandererfamilien die Mehrheit bilden.

Und noch etwas ergab die Auswertung der Raub- und Gewaltdelikte durch die „Zentralstelle für Jugendsachen“ der Berliner Polizei: Der „typische“ Täter ist zwischen 15 und 20 Jahre alt, kommt aus allen sozialen Schichten, begeht seine Tat, ohne sich über Konsequenzen lange Gedanken zu machen – und er beendet seine kriminelle Karriere, nachdem er sich zwei-, dreimal an Gesetzesübertretungen beteiligt hat.

Etwas anders sieht es bei den Mehrfachtätern aus. Diese kommen mehrheitlich aus sozial schwächeren, bildungsfernen Schichten. Kinder aus Immigrantenfamilien sind hier überrepräsentiert. Die Folge eines Kulturkonflikts? Wohl kaum. Anders als in den fünfziger und sechziger Jahren setzt sich heute das, was man mal als Subproletariat bezeichnete, in der Regel aus dem Kreis der Immigranten zusammen.

Das vermeintlich ethnische Problem bleibt ein soziales, das allerdings andere, auf die jeweils besondere Lebenssituation zugeschnittene Lösungsansätze erfordert als bei den deutschstämmigen Underdogs der Vergangenheit und Gegenwart. So bemängelt die Mitarbeiterin der polizeilichen „Zentralstelle für Jugendsachen“, Christine Burck, daß es viel zuwenig Sozialarbeiter aus dem Immigrantenkreis gebe, die kompetent als Vermittler zwischen diesen randständigen sozialen Milieus und der Mehrheitsgesellschaft arbeiten könnten.

Darüber hinaus aber bleibt als zentrale Herausforderung: Welche Integrationsangebote macht die deutsche Gesellschaft diesen Jugendlichen? Welchen Preis sind die „Besserverdienenden“ bereit zu zahlen, um der sozialen Desintegration breiterer Schichten entgegenzuwirken? Eberhard Seidel-Pielen

Der Autor ist freier Journalist und Buchautor

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