Jubiläen: Zeit für die Einheitsgrammatik
Ein Großer Tag oder ein kleiner? Selbst am 3. Oktober sind die Deutschen unentschieden.
"Willkommen beim Coca-Cola Soundwave Finale", brüllt MTV-Moderatorin Anastasia ins Mikrofon. Auf der großen Bühne westlich des Brandenburger Tors wirkt sie ganz klein. Die erste Band, die sie ankündigt, sind "Joy Became Clear". Die Band kommt aus Philippsburg in Baden-Württemberg, nun rockt sie in Berlin. Es ist der 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit.
Schreibt man "deutsch" im Zusammenhang mit Einheit nun groß oder klein? Das wollte ich auf der Festmeile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule herausfinden. Stattdessen: Asia-Food, Döner, Crèpes. So weit ist es gekommen, dass ich sogar die Stände der Bundesländer vermisse. Thüringer Bratwurst, bayerische Semmelknödel und Spreewaldgurken aus dem Brandenburgischen. Alles große Kultur. Alles Groß geschrieben.
Also fragen. Woher kommen Sie? Warum sind Sie hier? "Aus Berlin" - "mal gucken" - "die Fantastischen Vier" - "Feiertag". Und der Tag der Einheit? "Der natürlich auch, wir sind ja in Berlin, da ist die Mauer gefallen." Schreibt man deutsch bei Einheit groß oder klein? "Groß natürlich!" "Klein, gibt noch viel zu tun." Ein kleines Kind hält Luftballons in der Hand - schwarze, rote, gelbe. Auf ihnen steht: "You are leaving the American sector" - American, nicht american.
Der zweite Hinweis auf den 3. Oktober auf der andern Seite des Tors: Zwei Damen in Uniform bitten zum Foto-Shooting, eine in sowjetischer, die andere in amerikanischer. Welches Mützerl solls denn sein? Ein Tourist kann sich nicht entscheiden. Auf den Kopf setzt er Hammer und Sichel, vor die Brust hält er die Tricolore. So sind sie, die Deutschen. Unentschieden, selbst am Tag ihrer Einheit.
Deutsch oder deutsch? Meine Mutter und ihr Freund waren vor ein paar Tagen auf dem Cannstatter Wasen. Das Schwäbische Volksfest. So sehr haben sie "Schwäbisch" betont, dass gar kein Zweifel aufkommen konnte. Ein schwäbisches Volksfest, eine contradictio in adjecto. Ich nehme an, die Bayern sehen das mit dem Oktoberfest ähnlich.
Etwas ratlos in die Redaktion. Vielleicht hilft Kollege Ticker. Immerhin, er meldet: "Zehntausende Menschen haben in Berlin bei strahlendem Sonnenschein den Tag der Deutschen Einheit rund um das Brandenburger Tor gefeiert." Aber dann das: "Politiker würdigen Errungenschaften der deutschen Einheit." Und: "Der Hamburger Erzbischof Werner Thissen rief zu mehr Geduld bei der Verwirklichung der Deutschen Einheit auf." Die Errungenschaften werden kleingeredet, die Probleme groß. Armes deutschland!
Erinnerung. Vor zwanzig Jahren war hier schon mal ein Konzert. Kein kleines mit den Jungs aus Philippsburg, sondern ein großes - David Bowie und Genesis. Hüben und drüben große Worte: "Die Mauer muss weg".
Nun ist sie weg. An ihrer Stelle Anastasia. Selbst die großen Worte wirken klein. Am Einlass steht: "Filmaufnahmen verboten" und "Achtung, Sie werden gefilmt". Endlich was Politisches. "Wie bei der Stasi", schnauze ich den Wachhund an. "Ach was", sagt der. Es geht um Urheberrechte.
Und der Senat? Auch da keine Einheit. Auf berlin.de ist beides möglich: deutsche und Deutsche Einheit.
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