Joseph Beuys Entmystifizierung: Vom Kampfpilot zum Streetfighter
Joseph Beuys blieb im Herzen ein Hitlerjunge und passte so ganz gut zur Revolte der 68er, in der die Saat von 1933 aufging, meint der Schweizer Kunstprofessor Beat Wyss.
"Sag mal, bist du Nazi?", wurde mein langjähriger Freund Dietrich Kuhlbrodt, Jahrgang 1932, vor ein paar Jahren überraschend in der U-Bahn von einem 12-Jährigen gefragt. Dietrich hat seit Jahrzehnten eine Vollglatze und war auch mal Hitlerjunge. Was hätte Dietrich in dieser Situation tun sollen? Aufstehen und sagen "Nein, ich bin Staatsanwalt in der zentralen Erfassungsstelle für nationalsozialistische Verbrechen, schreibe Filmkritiken für die Frankfurter Rundschau und Konkret. Und meine Biografie erscheint demnächst im Verbrecher Verlag"?
Der Autor Beat Wyss zeigt in der Oktobernummer der Kunstzeitschrift Monopol, wie einfache Antworten aussehen können. Schon das Cover verspricht, den Mythos Joseph Beuys zu entzaubern. "Der ewige Hitlerjunge" lautet der freche Satz, der mit dem "ewigen Juden" spielt. Daneben reitet ein hübscher nackter Mann auf einer heiligen Kuh: Die Inder kommen!
Wyss Entmystifizierungskampagne beginnt mit der Besetzung des Sekretariats der Düsseldorfer Kunstakademie durch Beuys und seine Klasse im Jahr 1972. Eine höchst unvernünftige Besetzung, wie Wyss betont. Unvernünftig deshalb, weil Beuys meinte, dass alle interessierten Menschen Kunst studieren können sollten. Nicht etwa, damit schließlich alle Künstler würden, sondern vielleicht auch Bäcker, Krankenpfleger oder Zahnärztin. Beuys Klasse platzte ohnehin schon "aus allen Nähten", weiß der besorgte Beat Wyss. Und so schlägt er sich brav auf die Seite des NRW-Kultusministeriums: "Ein ministrabler Beschluss hatte kurz zuvor die Klassengröße auf dreißig Studenten festgesetzt, was didaktisch eigentlich ganz vernünftig ist." Eigentlich ganz vernünftig. Beuys dagegen: "Die Bewerber mit den schlechtesten Mappen waren meine interessantesten Schüler."
Auf der Folie einer aktuell gnadenlos um sich greifenden Vernunft baut der Kunstprofessor nun seine Argumentation auf. Die Unvernunft in unserer Gesellschaft ist zurzeit so gut wie tot. Allein der Wahnsinnige, der Clown demonstriert Unvernunft - wir wüssten ja auch sonst gar nicht mehr, wie so etwas aussehen könnte. Wenn Künstler hierzulande schreien: "Hitler, Stalin, Eisenhower!" - sich dabei einen Liter Schmieröl über den Kopf kippen, die Zerstörung sämtlicher deutscher Botschaften fordern, dafür schließlich den BZ-Kulturpreis erhalten, dann vermittelt sich in diesem Moment nicht nur den Lesern der Zeitschrift Monopol, sondern auch vielen anderen Mitbürgern das ureigentliche Gefühl ihrer Vernunft.
Der "Wiedergänger" Joseph Beuys indes, der 1964 "Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm - bessere Proportion!" empfahl, passt nicht in das aktuelle Raster dieser Vernunft. Denn wer den Gehalt seiner Aussage zum Mauerbau im Kontext der damaligen Zeit nicht dechiffrieren kann, wer weder die kunstvolle Frage liest noch den ihr inhärenten zersetzenden Humor spürt, der wird folgern, Beuys sei in den Mittsechzigern ein glühender Stalinist mit ästhetischen Visionen gewesen.
Beat Wyss versucht die Kunst von Beuys in entwaffnender Eindeutigkeit zu lesen. So erscheint der Künstler in Wyss Artikel als Wiedergänger der Dreißigerjahre, als "Autonomer" mit Hang zum Totalitären: vom Nazi-Kampfpilot zum 68er-Streetfighter. Die Naziuniform wandelt sich zur "Fantasieuniform": Anglerweste, Filzhut Marke Stetson und Blue Jeans. Es stellt sich die Frage, warum Wyss eigentlich nicht auf den Gedanken kommt, Beuys habe so den American Way of Life propagiert?
Wohl weil er eigentlich vermitteln möchte, dass die revoltierenden 68er im Grunde braunes Gesocks sind: "Denn siehe, die Saat von damals ging jetzt auf in der Generation von Studenten." Und so liest der Kunstprofessor Beuys Kunstbiografie als Beweis von Unaufrichtigkeit und Nazizeitverdrängung. Ist dort die Rede von "Tartaren", die ihn, den abgestürzten deutschen Piloten, gefunden hatten, in Filz wickelten und gesund pflegten, enthüllt Wyss: Alles Lüge! In Wahrheit sei Beuys nämlich gar nicht von Tartaren, sondern von deutschen Sanitätern gerettet worden. Von Deutschen! Hurra! Dass die Erzählung vom helfenden Tartaren Teil einer bewusst kunstvoll "gesponnenen" Biografie ist, die mit der deutschen Russenparanoia spielt, müsste eigentlich jedem klar sein, der Beuys Biografie liest: Da debütiert er 1921 mit der Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengeklebten Wunde. 1921? War das nicht sein Geburtsjahr?
Dass Beat Wyss die Komplexität der Werke von Beuys in der Folge ebenso "vernünftig" und einspurig liest, ist nur konsequent: Das austrofaschistische Kruckenkreuz "sieht Beuys Symbol des Braunkreuzes nicht unähnlich". Jedes changierende Bild, jede Metapher mit ihren mehrdeutigen Elementen, ihren wandelnden Bezügen, gerinnt ihm zur totalen Eindeutigkeit und fügt sich gleichwohl in den aktuellen Mainstream. Der Honig in der Honigpumpe auf der documenta 6 im Jahr 1977 wird im "alternativen Nachtwächterstaat" zur "Währung". Fehlt konsequenterweise nur noch die Krönung von Beuys zur Bienenkönigin der BRD.
Wo Wyss dagegen recht hat: Der Arbeit von Beuys haftet durchaus ein gewisser Muff an. Während andere westdeutsche Künstler nach 1945 große Formate mit frischen Farben füllen, den "Neuanfang" in großen, abstrakten Skulpturen und frischer Malerei feierten und die DDR an die Vorkriegstradition des politischen Realismus anknüpfte, sehen Beuys Zeichnungen und Skulpturen im Vergleich hutzelig, traurig, ärmlich, unförmig, rostig, völlig "unmodern" aus - eben so wie die Stimmung der repressiven Nachkriegsjahre in der BRD, wo der Wiederaufbau mit frischen Farben alte hässliche Fassaden und Wunden zuschminkte.
Dass Beuys seine körperlichen und seelischen Verletzungen, auch seine Anpassung in der Nazizeit wie kaum ein anderer seiner Generation thematisiert hat, macht ihn zur hiesigen Ausnahmegestalt. Der junge Mann, der, wie Wyss betont "wie ein Fisch im Wasser des braunen Zeitgeistes schwamm" und anschließend seine Erfahrungen in unverwechselbarer Form verarbeitete, wirkt sehr viel sympathischer als die Wendehälse, die sich nach 1945 zu Opfern und Widerstandskämpfern stilisierten. Sicherlich nervten Beuys-Fans, die seine Inszenierungen zu distanzlos, völlig ironiefrei aufnahmen und ihn zum Erlöser stilisierten. Seine Themen "Wunden" und "Heilen" haben daran gewiss auch einen Anteil.
Problematisch wird es aber, wenn die Mehrdeutigkeit von Bildwerken nicht als Qualität erkannt und wahrgenommen wird, sondern in selektiver Weise die Lesarten der jeweiligen Gegenwart in ihnen reproduziert werden. Auch wenn es kompliziert ist: In jeder Darstellung schlummern Affirmation und Subversion. Über die jeweilige Koinzidenz lässt sich produktiver Streit entfachen, nicht mehr jedoch über die einer vernünftig-richtigen Lesart. Sonst wird der nackte, gutgebaute Mann auf dem Monopol-Cover unversehens zum Indogermanen à la Leni Riefenstahl und der dem Heft beiliegende Hedgefonds-Prospekt zur Parodie auf den Bankencrash.
Eine Episode mit dem Schweizer Dieter Roth, der ein Werk von Beuys zertrampelte, entspannt das verzerrte Bild. Warum hast du das denn nur gemacht, fragte Beuys, der Roth für einen wichtigen Künstler hielt. Er sei halt neidisch gewesen, sagte Roth. Neben Beuys martialischer Installation in der Kunsthalle habe er seine eigene Arbeit gestellt, einen albernen Campingtisch mit Plastikeimer, als ironischen Kommentar. Die Besucher hätten sich nun auf Roths Campingstühle gesetzt, um sich in die Arbeit von Beuys zu vertiefen. Nach dem Gespräch erklärte Beuys die Zerstörung zum Gemeinschaftskunstwerk Beuys/Roth. Hier spielt Beuys wieder die Rolle eines Erlösers. Aber er zeigt auch, dass man seine Materialien und Installationen nicht als starre, unbewegliche Bedeutungsträger interpretieren kann.
Vor einigen Jahren lud ich Dietrich Kuhlbrodt in die Raststätte Gnadenbrot nach Berlin ein. Hier wollte ich vor Publikum mit ihm speisen und dabei über Elfen plaudern. Im Hintergrund lief die Liveübertragung des Eurovision Song Contest - durchgehend ohne Ton. Die Gruselschocker von Lordi aus Finnland gewannen. Am Ende unserer kleinen Show griff Dietrich nach einem leeren Weinglas und biss herzhaft hinein. Nah an den Mund hielt er dabei das Mikrophon. Genüsslich zermahlte er das abgebissene Glasstück mit seinen Zähnen. "Das habe ich als Hitlerjunge gelernt", meinte er. "Man sollte seine Aggressionen lieben lernen." Entsetzen herrschte im Saal. Niemand aß. Stille.
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