■ Joschka Fischer über die Verantwortung seiner Partei im Wahljahr 1994: Die Bündnisgrünen vor der Entscheidung
Wir leben, so sagt man, im postutopischen Zeitalter, aber das Jahr 1994 regt durchaus zum Träumen an, und selten liegen Traum und Alptraum so eng beieinander wie im Falle der bündnisgrünen Wahlaussichten für 1994. Der Traum: In der Wahlnacht 1994 wird eine grün-rote Mehrheit mit 45 Mandaten Vorsprung im Bundestag Wirklichkeit. Der Alptraum: Diese Mehrheit scheitert binnen eineinhalb Jahren an der Unfähigkeit von SPD und Bündnisgrünen zu einer mehrheitsfähigen Reformpolitik. Die Folgen: eine von uns mitverschuldete große Koalition in Bonn, das langfristige Scheitern jeglicher Reformpolitik in Deutschland, eine Existenzkrise für unsere Partei und schließlich das Schlimmste, nämlich ein dramatischer Rechtsruck in der ohnehin bereits nach rechts wegrutschenden bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Verfolgt man die bündnisgrüne Programmdebatte auf Bundesebene, so scheinen sich manche unserer Linken immer noch auf altbewährte, im wesentlichen innerparteiliche Rollenspiele konzentrieren zu wollen. Man will offensichtlich nicht begreifen, daß sich die politische Lage in Deutschland und Europa dramatisch und gefährlich verschärft hat und wo die Verantwortung unserer Partei liegt. Die mörderischen Angriffe auf Ausländer/innen in Deutschland seit 1992, die lethargische Reaktion des Staates und breiter Bevölkerungsschichten auf die damaligen Mordanschläge, eine beispiellose Asylhetze und jene Verschiebung fast des gesamten Themen- und Wählerspektrums nach rechts bis rechtsradikal zeigen, wie ernst die Lage in Deutschland 1994 tatsächlich geworden ist.
Die Bundesrepublik erlebt die schwerste Wirtschafts- und Strukturkrise. In allen Industriestaaten grassiert eine wachsende Massenarbeitslosigkeit, nationale Konkurrenzen werden wiederbelebt, Umweltschutz als überflüssiger Wohlstandsluxus abgetan, auf dem Balkan und am Kaukasus toben mörderische Kriege, und die jüngsten Parlamentswahlen in Rußland sehen dort einen erklärten Faschisten und Dunkelmann als den eigentlichen Wahlsieger.
Schon die Kurzbeschreibung der aktuellen politischen Lage muß doch für alle klarmachen, daß es im Wahljahr 1994 für die Bündnisgrünen allen Ernstes nicht um die Frage programmatischer Anpassung an mögliche Koalitionspartner geht, sondern allein um die Frage, ob dieses Land unter dem Druck von Wirtschaftskrise, wachsenden Enteignungs- und Verlustängsten in allen Bevölkerungsgruppen und dem neuen Nationalismus ein weiteres Mal in seiner Geschichte auf die schiefe Bahn gerät. „Sich langlegen oder querstellen?“ Diese Alternative von Frieder O. Wolf (taz vom 10.1.94) ist abgestandener Flügelquatsch von vorgestern. Ob der Länge nach angeblich koalitionskonform liegend oder quergestellt kritisch stehend, beide Haltungen sind gleichermaßen starr und bewegungslos. So wird man garantiert überrollt.
Wir wollen die deutschen Verhältnisse ökologisch, sozial und demokratisch umgestalten, aber gestalten heißt Erfolgsorientierung und demokratisch heißt Mehrheitsfähigkeit. Viele Linke in unserer Partei, vor allem aus jenem lauschigen Landesteil zwischen Rhein, Ruhr und Lippe, wo die Wahlerfolge und die ganz praktischen Umbauleistungen ja seit Jahren in einem umgekehrten Verhältnis zu Radikalität und Umfang der Programme stehen, glauben immer noch, daß zwischen der Verwirklichung unserer radikalen Wünsche – Atomausstieg sofort, Abschaffung der Bundeswehr, Austritt aus der Nato, Grenzen auf für alle, Grundsicherung 1.500 DM und mehr für alle, radikale Steuererhöhungen für die Reichen, Wohltaten für die Armen – lediglich noch die böse, arbeiterverräterische SPD stünde. Dieser Glaube ist eine große Torheit und demnach ein böser Fehler. Erstens taugt die SPD nicht zu unserem Realitätsprinzip, denn sie hat selbst mit der Realität noch genügend Probleme. Und zweitens werden die Bündnisgrünen dadurch in ein mündelartiges Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der SPD gezwungen, das wir schon aus Gründen der Selbstachtung niemals wollen können. Genau darauf läuft aber die linksgrüne Arbeitsteilung von radikalem Programm und äußerst vager Durchsetzungsperspektive hinaus. Faktisch heißt das: Wir fordern, die SPD soll ablehnen! Wir sind für die Utopie, die SPD für die Realität zuständig! Im Grunde steckt da die alte linke Haßliebe gegenüber der verräterischen SPD dahinter, getarnt als Entlarvungssehnsucht, die noch nie etwas gebracht hat. Wir sollten diese Rolle den echten Jusos überlassen.
Muß uns die SPD in kommenden Koalitionsverhandlungen die Realitäten des Atomausstiegs beibiegen? Haben wird das nötig? Wenn Manfred Busch sich mit seinem „Sofortismus“ im Wahlprogramm durchsetzt, werden wir diese trübe Erfahrung machen. Finanzierbarkeit, Machbarkeit, Mehrheitsfähigkeit, rechtliche Schranken, außenpolitische Rücksichtnahmen sind doch keine Liebesbeweise an Koalitionspartner oder knieweicher Programmverrat, sondern vielmehr unverzichtbare Bestandteile eines verantwortlichen Politikkonzepts.
In der Wirtschafts- und Sozialpolitik blenden wir die von uns nicht beeinflußbaren Rahmenbedingungen aus. Eine kräftige nationale Umverteilungspolitik von oben nach unten (mit Steuererhöhungen von 173 Milliarden DM oder 23,7 Prozent im ersten Jahr einer grün-roten Bundesregierung, wie von den Linken vorgeschlagen!) wird an eben diesen Rahmenbedingungen – Flucht aus der D-Mark, Kursverfall, Bundesbank, Investitionseinbrüche etc. – schneller enden, als sie zu Papier gebracht wurde. Hat man die katastrophalen Erfahrungen und den rabiaten Kurswechsel der französischen Sozialisten von Karl Marx hin zu Helmut Schmidt nach zwei Jahren Regierung in den frühen Achtzigern schon vergessen?
Ein Zyniker würde vorschlagen, daß die Partei den Mut haben sollte, in der Außenpolitik mit ihrer beschlossenen Abschaffung der Bundeswehr und dem Austritt aus der Nato Wahlkampf zu machen. Die Wirkung wäre ganz sicher ähnlich umwerfend für das Wahlergebnis wie jene originelle Parole vom Wetter angesichts der deutschen Einheit. „Grün pur“ heißt dies bei unseren NRW-Linken, und ein solch „grün pures“ Wahlprogramm soll für Mobilisierung und Wahlergebnis besonders gut sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob unser letztes Wahlprogramm etwa nicht sehr „grün pur“ war? Und man sollte mal erklären, warum die Hamburger GAL mit einem realitätsorientierten Programm gegenüber den äußerst „grün puren“ Zeiten von Ebermann ihre Stimmen fast verdoppeln konnte? Und warum ausgerechnet Hessen und Baden- Württemberg, aus grün-linker Sicht knieweiche Kompromißveranstaltungen, neben den Stadtstaaten immer die besten Wahlergebnisse einfahren, während so „grün pure“ Wahlhits wie NRW mühselig um die Fünfprozenthürde herumkrebsen?
Nein, der Erfolg bündnisgrüner Politik wird diesmal anders definiert, weil wir sie 1994 am Ende machen und nicht mehr nur radikal beschließen müssen. In der Außen- und Friedenspolitik werden wir verdammt gut sein, wenn wir eine weitere Militarisierung der Außenpolitik wirklich und tatsächlich verhindern und zur Entstehung einer europäischen Friedensordnung beitragen, die das Militär langfristig überflüssig macht. In der Innenpolitik werden wir uns auszeichnen, wenn wir dem neuen Nationalismus und der Ausländerfeindlichkeit die Stärkung der multikulturellen und liberalen Gesellschaft Deutschlands mit einem Einwanderungsgesetz, einem neuen Staatsbürgerrecht und dem Ausbau von Bürgerrechten und Demokratie entgegensetzen.
In der Wirtschaftspolitik können wir hochzufrieden sein, wenn es trotz Staatsverschuldung gelingt, eine gerechtere Verteilung der Arbeit mit dem Beginn des ökologischen Umbaus in den Kernbereichen Energie (Atomausstieg), Verkehr und ökologische Steuerreform zu verbinden. Und in der Sozialpolitik werden wir uns Weltmeister nennen dürfen, wenn wir den Umbau und nicht den Abbau des Sozialstaates hinbekommen. Ein neuer Gesellschaftsvertrag wird eine gerechte Lastenverteilung zwischen Arm und Reich beinhalten und die weitere Desolidarisierung verhindern müssen. Wer dahinter aber nur die altlinken Umverteilungsmodelle verbirgt, der wird scheitern. Warum soll ausgerechnet uns gelingen, woran die besten Köpfe der sozialistischen, kommunistischen und christlichen Linken bisher immer gescheitert sind? Eben.
Das alles hat nichts mit der SPD oder mit Koalitionen zu tun, sondern diese Fakten würden ebenso gelten, wenn die Bündnisgrünen 1994 die absolute Mehrheit bekämen. Genau daran muß man aber seine Politik ausrichten. Ich meine es völlig ernst mit der Forderung, die eigene Politik an der Durchsetzbarkeit bei einer theoretisch angenommenen absoluten Mehrheit zu orientieren, denn nur so wird man objektive Unterscheidungskriterien zwischen Anpassung, Kompromiß und eigenem Programm finden können. Genau dies muß daher der Maßstab sein für die programmatischen Entscheidungen der Partei im Vorfeld der Wahlen, wenn unsere Politik glaubwürdig sein soll. Und Glaubwürdigkeit ist in diesen politikverdrossenen Zeiten ein hohes Gut.
Wir sollten uns von den Umfrageergebnissen weder besoffen noch faul machen lassen. Den französischen Grünen ging es vor ihrem Absturz bei den letzten Nationalwahlen demoskopisch ähnlich glänzend. Wir haben noch lange nicht gewonnen. Zu vieles hängt aber mittlerweile von den Entscheidungen unserer Partei in Deutschland ab. Es geht nicht um mehr oder weniger Radikalität im Programm, sondern allein um die Durchsetzungs- und die Mehrheitsfähigkeit. Daran sind die unterschiedlichen Entwürfe zu messen. Wenn es die Partei zum Beispiel in der Umverteilungspolitik gerne radikal hätte, bitte, so soll sie dies ruhig beschließen. Sie muß dann aber auch den Mut haben, die Verantwortung für deren Durchsetzbarkeit zu übernehmen, und darf das absehbare Scheitern an der Realität nicht schimpfend an die SPD oder einige Realos delegieren.
1994 kämpfen wir nicht nur für den Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag und für die Ablösung Kohls, sondern wir kämpfen zuerst und vor allem für die ökologische und soziale Erneuerung Deutschlands. Ohne eine bündnisgrüne Regierungsbeteiligung in Bonn wird es diese Reform aber nicht geben. Regierungsbeteiligung in Bonn meint die Beteiligung an der Regierung einer der wichtigsten Mächte dieser Welt. Wenn es also zu einer grünen Regierungsbeteiligung kommen sollte, dann wird diese unter äußerst schwierigen innen- wie außenpolitischen Bedingungen und gegen den härtesten Widerstand von rechts stattfinden. Unter solch extrem widrigen Bedingungen ist in der deutschen Nachkriegsgeschichte niemals zuvor Reformpolitik von links versucht worden. Andererseits wäre eine Politik des Abwartens auf bessere Zeiten bloßes Kneifen vor der Verantwortung und damit eine bewußte Inkaufnahme der Rechtsverschiebung Deutschlands mit allen fatalen Folgen.
Den Gedanken an eine Regierungsbeteiligung sollten wir allerdings sofort wieder vergessen, wenn sich die Partei nicht in einem Punkt völlig einig ist: Auf keinen Fall und unter keinen Umständen darf eine grüne Regierungsbeteiligung in Bonn in einem Debakel enden. Wir würden damit eine gewaltige historische Schuld auf uns laden. Wir machen Politik in Deutschland, vergessen wir das nie. Das Land taugt nicht für Abenteuer. Exakt dies ist die Meßlatte, die wir an uns selbst, an alle Flügel, alle Strömungen und alle Programme in der Partei anlegen müssen. Man nennt dies Verantwortung.
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