■ John Major entgeht mit einer Stimme Mehrheit dem Sturz: Eine neue Art von Doppelmoral
Das britische Unterhaus hat Premierminister John Major noch einmal gerettet: Mit einer Stimme Mehrheit wurde der seit Jahren von Niederlage zu Niederlage dümpelnde konservative Regierungschef davor bewahrt, die Vertrauensfrage stellen und gar vorzeitige Neuwahlen ausrufen zu müssen.
Der politischen Kultur Großbritanniens freilich hat die Abstimmung nicht gut getan, zeigt sie doch, daß auch ein handfester Skandal sich in letzter Instanz in kleinteilige Kuhhandel mit den aufbegehrenden „Rebellen“ in den eigenen Reihen übersetzen läßt. Und das, obwohl es um ein Thema geht, das jedem Parlament heilig sein sollte: der Umgang der Exekutive mit der Legislative, oder genauer: das Umgehen und Belügen des Parlaments durch die Regierung.
Major und seine Minister haben sich taub und stur gestellt, seit klar wurde, daß die vom Premier selbst seinerzeit eingesetzte Untersuchungskommission unter Vorsitz von Richter Richard Scott sie derbe belasten würde. Die – erfolgreichen – eiligen Versuche vom Montag, noch in letzter Sekunde durch Zugeständnisse an die eine oder andere Abgeordnetengruppe die Stimmen zusammenzuhalten, widersprechen deutlich der nach außen gezeigten Gelassenheit. Da nämlich schien die Regierung zu signalisieren: Geht uns alles nichts an. „Scham?“ schrieb Guardian- Kommentator Hugo Young – „das zu zeigen, wäre ein Bruch mit Regel Nummer 1 für Kabinettsmitglieder“. Major hat von Helmut Kohl gelernt – die einfachste Methode, Skandale durchzustehen, ist Aussitzen.
Was der eigentliche Anlaß des Skandals war, ist dabei fast in Vergessenheit geraten: Mit Billigung der Regierung, das fand Scott heraus, hatten britische Firmen Ende der achtziger Jahre Rüstungsmaterialien in den Irak geliefert. Regierung und Geheimdienst hatten davon nicht nur gewußt, sondern sogar aktiv daran mitgewirkt – unter Umgehung aller Bestimmungen der Waffenexportkontrolle. All das wird nun, nachdem die Regierung die Abstimmung gewonnen hat, nicht einmal zu Rücktritten führen. Und das in Großbritannien, wo sich jedes Mitglied der gehobenen Gesellschaft unmöglich macht, zurücktreten muß oder sich gar umbringt, wenn ihm ein Puffbesuch nachgewiesen werden kann. Daß gerade hier die Ausstattung von Angriffskriegen nach ein paar innenpolitischen Deals für die Beteiligten folgenlos bleibt, offenbart eine absurde Kriterienverschiebung, eine neue Spielart der sprichwörtlichen Doppelmoral. Bernd Pickert
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