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Jörn Kabisch Der WirtTrinkgeld ist ein Relikt aus alten Zeiten

Foto: privat

Es ist immer wichtig, mit der Zeit zu gehen­, aber auch: dabei Maß zu halten. So gehörte etwa zu den ersten Anschaffungen, als wir das Gasthaus eröffneten, die Miete eines Kartenlesegerätes. Heute, drei Jahre später, sind Gäste immer noch erstaunt, wenn das Gerät sogar die Bezahlfunktion ihres Mobiltelefons erkennt; in einem Lokal weit auf dem Land hatten sie erwartet, dass nur Bares akzeptiert wird. Akzeptieren wir, und ich füge hinzu: noch. Über 95 Prozent unserer Gäste zahlen bereits mit Karte.

Nun aber hat mir der Vermieter des Kartenterminals ein Angebot gemacht. Ob ich nicht das Gerät mit einer Trinkgeldfunktion ausstatten möchte? Dabei tippe ich den zu zahlenden Betrag ein, drücke auf Grün, und der Gast bekommt einen Screen gezeigt, auf dem er noch ein Trinkgeld hinzufügen kann, mit mehreren Optionen: 0, 10, 15 oder 20 Prozent beispielsweise. Die Werte kann ich frei bestimmen.

Inflationsbedingt, schreibt mir die Firma, säße das Trinkgeld den Kunden nicht mehr so locker in der Tasche, vor allem beim digitalen Bezahlen. Da wirke sich die Trinkgeldtaste positiv aus, da stecke nur ein wenig „Nudging“ dahinter, das niemandem wehtäte. Am interessantesten ist aber folgender Satz: Bei Mit­ar­bei­te­r:in­nen steige die Motivation, weil ihnen über das Trinkgeld das Gefühl vermittelt werde, dass sie fair bezahlt werden.

Faire Bezahlung gleich Trinkgeld – das lässt tief blicken. Es ist sechs Jahre her, da habe ich enge Bekanntschaft mit der Trinkgeldtaste gemacht. Fünf Tage war ich in New York, hatte keinen einzigen Dollarschein zwischen den Fingern, und in einigen Restaurants war es auf den Kartenterminals gar nicht vorgesehen, 0 Prozent tip zu geben, das Minimum waren 15. Man muss dazu wissen, der Mindeststundenlohn in der US-Gastronomie reicht nicht einmal für ein Subwayticket, der tip ist die eigentliche Bezahlung. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, der Terminalvermieter will mir einreden, wie cool-amerikanisch das wäre, wenn die Latte-macchiato-Trinkerin künftig direkt die Bezahlung meiner Bedienungen übernimmt.

Jörn Kabisch hat einen Gasthof in Franken gepachtet. Über seine Erfahrungen schreibt er alle vier Wochen an dieser Stelle.

Wir sind aber in Europa. Meine Meinung: Trinkgeld ist das Relikt einer Zeit, in der es noch „Diener“ oder „Fräuleins“ gab, die darauf angewiesen waren, dass sie der Gast aus freien Stücken entlohnte. Das Trinkgeld manifestiert bis heute ein Top-down-Verhältnis. Servicetätigkeit ist aber auch nichts anderes als Carearbeit. Es gibt ganz allmählich ein gesellschaftliches Umdenken, dass dieser Sektor angemessen entlohnt gehört. Ich finde, da sollte die Gastronomie mitziehen, denn sie hat wirklich große Probleme, noch Mit­ar­bei­te­r:in­nen zu finden. Sie sollte sie gut bezahlen und nicht auf die Großzügigkeit der Gäste setzen.

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