Jochim Gauck zu DDR-Geschichte als Unterrichtsthema: "Lehrer meiden das"
Schüler könnten und sollten mehr wissen über DDR-Geschichte, sagt Joachim Gauck, der in Schulen geht und vom Alltag mit Spitzeln und FDJ erzählt
taz: Herr Gauck, wie viel wissen die Schüler in Deutschland über die DDR-Geschichte?
Joachim Gauck: Zu wenig - und vor allem: weniger, als sie wissen könnten.
Joachim Gauck,70, ist Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie" und ehemaliger Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde.
Ist der Grund Versäumnisse in den Lehrplänen?
Natürlich liegt es teilweise auch daran. Vor allem aber liegt es am ungenügenden Engagement der Lehrer, insbesondere bei älteren aus Ostdeutschland. Es gibt Lehrer, die das Thema meiden, weil sie ihr eigenes Leben nicht reflektieren wollen.
Die Jugendlichen, die jetzt die Schulbank drücken, haben das DDR-Regime nicht mehr mitbekommen. Sie gehen selbst in Klassen und erzählen Schülern von der DDR. Aber sind die überhaupt an dem Thema interessiert?
Es ist natürlich schwer, sich in eine Zeit hineinzufühlen und -zudenken, die man nicht selber miterlebt hat. Deswegen ist es gerade bei jungen Menschen wichtig, ihnen einen emotionalen Zugang zur DDR-Geschichte zu eröffnen.
Wie schaffen Sie das?
Anhand von Beispielen und Geschichten aus dem Leben.
Und das kann Schüler für das Thema begeistern?
Sie müssen ihre Distanz zu dem Thema verlieren. Ich erzähle Ihnen von Menschen in ihrem Alter. Kaum einer kann sich vorstellen, schießen und exerzieren zu müssen - und das in einer ganz normalen Schule. Es durfte keine Schülerzeitung gemacht werden, es gab keine Klassensprecher und - wenn man nicht in der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, war - durfte man kein Abitur machen. Wenn das noch nicht wirkt, erzähle ich, wie 16-Jährige zum Spitzeldienst für den Staatssicherheitsdienst gedrängt wurden.
Macht das die Schüler nachdenklich?
Natürlich, das sind ja ihre Altersgenossen. Damit tauchen für sie neue Fragen auf. Wie wäre es für mich gewesen, in der DDR zu leben? Was hätte ich gemacht? Wäre ich in den Widerstand gegangen? Eines meiner großen Anliegen ist es zu beschreiben, wie schwierig es ist, Zivilcourage zu zeigen, wenn alle anderen sich anpassen.
Und wie beantworten die Schüler sich diese Fragen?
Wenn sie ehrlich sind, spüren sie, dass sie wohl auch mitgelaufen und den einfacheren Weg gegangen wären.
INTERVIEW: ALEXANDER BÖTTNER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken