: Jia sagt: Fu lügt
AUS ZIGUI GEORG BLUME
Chinas bekanntester KP-Kritiker hat das Bett gewechselt. Seit ein paar Tagen liegt Fu Xiancai nicht mehr allein auf der Intensivstation, sondern in Zimmer 29–31, Erdgeschoss, 1. Volkskrankenhaus der Stadt Yichang.
In Fus Zimmer sieht es aus wie in jedem chinesischen Krankenhaus: Betten für die Patienten, daneben, auf dem Boden, schlafen die Angehörigen, die ihre kranken Verwandten versorgen. Fu liegt auf einem Stahlbett mit dünner Matratze. Er trägt einen beigen Schlafanzug, neben ihm auf dem hölzernen Nachttisch steht sein Teeglas, darunter die hellblaue Thermosflasche mit heißem Wasser.
Fus Ehefrau, Gao Zhizhang, ist bei ihm, sie massiert regelmäßig seine gelähmten Gelenke. Nur Kopf und Schultern kann er bewegen. „Seine Beine bewegen sich wieder von selbst“ sagt Gao, „aber er spürt nichts.“ Fus behandelnder Arzt bestätigt ihre Befürchtung. Er meint, sein Patient werde für immer im Rollstuhl sitzen müssen.
Fu ist in Deutschland bekannt. Vor gut drei Monaten, am 8. Juni, hat er sich lebensgefährlich verletzt. Oder sollte man besser schreiben: „wurde er verletzt“? Deutsche Diplomaten und Medien haben den 47-jährigen Maisbauern aus der zentralchinesischen Provinz Hubei seitdem wiederholt als Verfolgter der Behörden beschrieben, als Opfer eines Attentats, verübt von Schergen der KP. So lautete der Verdacht. Denn Fu Xiancai hatte etwas in China Unerhörtes getan: Er hatte sich gewehrt. Als Anwohner des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse hatte er hautnah mitbekommen, wie die Entschädigungsgelder für Umsiedler von den chinesischen Behörden veruntreut wurden. Er hatte Unterschriften gesammelt, 8.000, und persönlich zur Beschwerdebehörde nach Peking gebracht. Nachdem die ARD ihn zu dem Sachverhalt interviewt hatte, war er eine steile Böschung hinabgefallen. Gestoßen sei er worden, sagt Fu. Ausgerutscht, sagt die Polizei.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch eröffnete daraufhin in Deutschland ein Spendenkonto für den schwer verletzten Fu, und Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Peking überreichten ihm auf selten unprotokollarische Art das Geld. Das half Fu, eine schnelle Operation und gute medizinische Betreuung zu bekommen.
Doch seltsam: Seit der Staudammkritiker die Intensivstation verlassen hat und wieder voll ansprechbar ist, scheint das Interesse der Deutschen erlahmt zu sein. Und das, obwohl kein Arzt mehr Gespräche untersagt und selbst die KP-Behörden Fu nicht mehr daran hindern, ausführliche Interviews zu geben. Niemand will Fu sprechen. Der wundert sich, dass nur noch so wenige derjenigen, die ihn bisher unterstützt haben, nach ihm fragen.
Vielleicht liegt es daran, dass heute Chinas Regierungschef Wen Jiabao zu Wirtschaftsgesprächen in Deutschland eintrifft. Da mögen selbst die deutschen Diplomaten, die sich bisher für Fu eingesetzt haben, andere Dinge im Kopf haben als das Schicksal des einsamen Maisbauern. Das scheint verständlich – hat Berlin doch bereits einiges für Fu getan. Doch die deutsche Außenpolitik machte sich unglaubwürdig, würde sie den Fall Fu gegenüber Premier Wen nicht einmal mehr erwähnen. Denn Fu Xiancai ist ein deutsch-chinesischer Fall. Wer Chinas Regierungschef heute in Deutschland nicht an ihn erinnert, erweckt den Eindruck, den Deutschen seien Geschäfte wichtiger als die Aufklärung eines versuchten Mordes.
Bisher gibt es für diesen 8. Juni zwei Versionen. Fus lautet: „Die von der Polizei beauftragte Mafia wollte mich töten. Ein mir unbekannter Mann im braunen Hemd hat mich zweimal geschlagen, dann bin ich gerutscht und gefallen.“ Der Polizeichef der Kreisstadt Zigui, Oberstleutnant Jia Li, sagt der taz: „Das Ganze war ein Unfall, ein Zufall. Fu wurde von niemanden geschlagen.“
Jia Li sollte es wissen. Er hat den amtlichen Polizeibericht über Fus Sturz verfasst. 38 Jahre ist er alt, hochgewachsen, trägt eine Brille und ein kurzärmliges hellblaues Uniformhemd mit der Nummer 056570. Jia sagt: Fu lügt.
Der Tatort – oder Unfallort – wird vom Drei-Schluchten-Damm überschattet. Hier also ist es geschehen. Nicht irgendwo im chinesischen Niemandsland, sondern zu Füßen der höchsten Staudammmauer der Welt.
Zigui ist eine moderne Kleinstadt. Sie liegt am Stausee des Jangtse, unmittelbar hinter der 185 Meter hohen Staumauer. Vom Stadtrand führt ein Trampelpfad hinab nach Yangguidian, dem Dorf, in dem Fu Xiancai wohnt. Die mit Kiefern und Erdnusssträuchern bewachsenen Abhangterrassen liegen direkt gegenüber dem Staudamm. Der Weg ist steil, wird aber von vielen Dorfbewohnern genutzt. An einigen Stellen besteht Rutschgefahr, jedoch nicht an der entscheidenden Stelle. Hier macht der Weg eine Biegung, bleibt aber flach und ungefährlich.
Dennoch muss Fu an dieser Stelle gestürzt sein – von einem anderen Wegstück kann er nicht auf die fünf Meter tiefer gelegene Betonplatte gefallen sein, wo man ihn am Morgen des 8. Juni schwer verletzt fand. Der Ort ist für einen Mordversuch wie gemacht: Ein kleiner Schubser, und das Opfer stürzt unbemerkt in die Tiefe.
Oberleutnant Hu Xinglong hat den Ort als Erster untersucht. Gemeinsam mit Oberstleutnant Jia Li ist er hierhergekommen, um den Reporter von der offiziellen Version des Falles Fu zu überzeugen. Auf mehrfache Nachfrage räumt der Chef der Kriminalpolizei ein: „Mein Gefühl war, dass er gerutscht ist. Aber ob er vorher selbst ausgerutscht ist oder geschubst wurde, ließ sich schwer beurteilen.“ Genau das ist die Schwäche des Polizeiberichts. Jia nennt darin durchaus denkbare Gründe, warum Fu ohne Fremdeinwirkung ausgerutscht sein könnte – zum Beispiel seine abgelaufenen Schuhsohlen. Er verweist auch auf medizinische Gutachten, die beweisen sollen, dass Fu vor seinem Sturz weder verprügelt noch schwer geschlagen wurde. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber es schließt eben nicht aus, dass Fu vom Täter nur leicht getroffen wurde und dabei sein Gleichgewicht verloren hat und gefallen ist. In einem Moment der Unachtsamkeit räumt Jia selbst ein: „Wie Fu gefallen ist, lässt sich nicht rekonstruieren“. Jia hätte also weiterermitteln müssen: nach einem möglichen Täter. Aber sein Bericht gibt sich mit den Aussagen einiger Bauern zufrieden, die am Morgen des 8. Juni unweit des Tatortes ihre Terrassenfelder bewirtschaftet und nichts Verdächtiges bemerkt haben. Dass sich ein Täter in dem bewaldeten Abgang leicht verstecken konnte, lässt Jia nicht gelten. „Fus Lügen haben sicher einen Zweck“ mutmaßt der Polizeichef. „Vielleicht machte er sich nach seinem Sturz ja Sorgen, wer seine Behandlung bezahlt.“
Ganz anders denken die Dorfbewohner von Yangguidian über den Vorfall. „Ich kenne Fu Xiancai seit Jahren sehr gut“, sagt Bürgermeister Han Qingzhan, „er hat auf mich immer einen milden Eindruck gemacht, man konnte immer vernünftig mit ihm reden.“ Han trägt ein rotes T-Shirt und sitzt am runden Tisch des Dorfkomitees, das seinen Sitz in einem einfachen Betonhaus hat. Über ihm prangt in roten Schriftzeichen die Parole: „Widersprüche versöhnen. Gemeinsam Frieden aufbauen“. Das passt zu Han. Denn obwohl er zweifellos dem Druck seiner übergeordneten KP-Behörde ausgesetzt ist, sagt er kein schlechtes Wort über Fu. Er nimmt sogar sein grünes Moped und fährt voraus zum Haus der Familie Fu, einem dreistöckigen Bau mit Blick auf den Staudamm.
Hier sitzen Fus Bruder, Fus jüngerer Sohn und Han’s Vorgänger im Amt des Bürgermeisters, ein älterer weißhaariger Bauer. Mao lächelt von der Wand. Gemeinsam reden sie über Fu, seinen Protest gegen den Staudamm und die Verfolgungen, denen er ausgesetzt war. Sie zeigen die kaputte Scheibe im ersten Stock, erzählen, dass im letzten Jahr schon dreimal Fus Fenster eingeschlagen wurden. Alle im Dorf hätten darin Drohgebärden höherer Behörden gegen Fu erkannt. Denn: „Im Dorf hatte Fu keine Feinde“, sagen die vier. Im Gegenteil, jahrelang habe er sich für die durch den Staudammbau 1993 hierher umgesiedelten Neubürger eingesetzt.
Deshalb sei er auch öfter in Peking gewesen. Mehrmals hätten ihn Fremde auf seinen Reisen zusammengeschlagen. „Letzten Winter hat jemand Fu einen Papierblumenkranz vor die Tür gestellt, wie man ihn für Beerdigungen bestellt“, erzählt der ehemalige Bürgermeister. Fus Sohn ergänzt: „Mein Vater wusste selbst nie, wer die waren, die ihm Böses wollten.“ Er weiß aber auch, dass viele Leute aus anderen Dörfern zu seinem Vater kamen, um sich von ihm Rat zu holen.
Je länger die vier über Fu reden, desto klarer wird der hochpolitische Kontext des Vorfalls vom 8. Juni. Fu war an diesem Morgen zum Gericht in Zigui gegangen, um dort wieder einmal Klage gegen die Behörden einzureichen. Dann suchte er die Polizeistation auf, um die Beamten über seine Klage zu unterrichten. Auf dem Nachhauseweg fiel er die steile Böschung hinab.
War Fu auch an diesem Morgen ein Verfolgter, so wie in den Jahren davor? Diese Frage stellt Jias Polizeibericht nicht. Er fragt nicht einmal nach denen, die Fu an diesem Morgen angezeigt hat.
Bei dieser Frage würde der bekannte Anwalt Zhou Litai aus der Jangtse-Metropole Chongqing ansetzen, wenn er den Fall Fu übernehmen könnte. Auch bei der Frage, ob das ARD-Interview im Zusammenhang mit einer Verfolgung Fus stand. In seinem Büro im 13. Stock eines Bürohochhauses bietet Zhou an, den Fall Fu zu übernehmen. „Die lokalen KP-Behörden wollen nur Wachstum – auf Kosten der Gesetze, der Menschenrechte und auch auf Kosten von Menschenleben“, begründet der Anwalt sein Interesse. Doch gerade im Fall Fu sei noch nichts bewiesen. Die Deutschen könnten wohl noch einmal etwas für den Staudammkritiker tun – wenn sie ihm nach den Operations- nun auch die Anwaltkosten auslegen würden.
Human Rights Watch e. V. Kontonummer 602929203, Commerzbank BLZ 50040000, Stichwort „Fu Xiancai“