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Jetzt wird nicht mehr in die Hände gespuckt

■ Grenzen des Wachstums erreicht / Schui: Keine Schocktheorien

Frankfurt (dpa/ap) - Das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik wurde im vergangenen Jahr stark abgebremst. Das Bruttosozialprodukt ist 1987 real nur noch um 1,7 Prozent gestiegen, nachdem in den beiden vorangegangenen Jahren jeweils ein Wachstum von 2,5 Prozent erzielt werden konnte. „Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt!“ Mit frechen Rhythmen begleitete die Ruhrpott–Rockband „Geier Sturzflug“ vor fünf Jahren den Beginn des jüngsten Konjunkturaufschwungs. Doch während die Bundesregierung auch noch für dieses Jahr an eine Steigerung des Bruttosozialprodukts um 2,5 Prozent glaubt, sagen Wirtschaftswissenschaftler längst eine Stagnation voraus. Sowohl das unternehmernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln als auch eher linksgerichtete Professoren der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik halten beim Wachstum erstmals seit 1981 wieder eine Null vor dem Komma für wahrscheinlich. Professor Herbert Schui von der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik sieht die bundesdeutsche Konjunktur der zeit ohnehin auf dem absteigenden Ast: „Die Marktwirtschaft hat nun einmal alle acht Jahre einen solchen Zyklus.“ Es sei nicht gerechtfertigt, für den bevorstehenden Konjunkturabschwung einen „externen Schock“ wie Dollarverfall oder Börsenkrach verantwortlich zu machen. Die Industrieproduktion sei schon vor dem 19. Oktober zurückgegangen, betonte Schui in einem ap–Gespräch: „Man soll 150 Jahre Konjunkturtheorie nicht durch solche Schocktheorien ersetzen.“ Die Dollarschwäche kratzt allerdings an der neben dem Privatkonsum zweiten Säule des bundesdeutschen Bruttosozialprodukts, dem Exportgeschäft. Da sich riesige Exportüberschüsse als „unfreundlicher Akt gegenüber dem Ausland“ nicht auf Dauer erzielen ließen, fordern Schui und andere Wissenschaftler der AG Alternative Wirtschaftspolitik eine Verlagerung der konjunkturellen Gewichte: „Wir sollten nicht faule Dollar ins Portefeuille nehmen, sondern Marktplätze sanieren, Radwege bauen oder ökologische Altlasten abbauen.“ Bei solchen kommunalen Aufgaben gibt es nach Angaben des Bremer Wirtschaftswissenschaftlers Rudolf Hickel (wie Schui Mitglied der AG Alternative Wirtschaftspolitik) einen Investitionsbedarf von schätzungsweise 600 bis 700 Milliarden Mark. „Zumindest auf mittlere Sicht ließen sich damit Wachstumsverluste aufgrund schwächerer Exportergebnisse ausgleichen“, sagt Hickel. Langfristig werde sich die Bundesrepublik allerdings an niedrigere Wachstumsraten anpassen müssen und dann auch nicht mehr um eine Arbeitszeitverkürzung in allen Branchen umhinkommen. Die derzeit herrschende Wirtschaftspolitik sei jedoch immer noch den Vorstellungen der 50er Jahre verhaftet. „Das ist für mich ein Alptraum“, meint der Bremer Professor. Seit 1950 hat sich das bundesdeutsche Bruttosozialprodukt etwa verzwanzigfacht. In den fünfziger Jahren gab es in der Bundesrepublik noch reale (das heißt unter Abzug der Inflation) Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts von durchschnittlich 7,9 Prozent. In den 60er Jahren wurden dann im Schnitt noch Zuwächse von 4,9 Prozent erzielt, wobei das Jahr 1967 mit dem ersten „Minuswachstum“ herausragte. Die „Grenzen des Wachstums“ - so der Titel des 1972 erschienenen „Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ - traten erstmals in den 70er Jahren ins öffentliche Bewußtsein. Damals kletterte das Sozialprodukt noch um immerhin 3,1 Prozent pro Jahr. Die Steigerungsrate des Bruttosozialprodukts wird zunächst nur als vorläufiger Wert bekanntgegeben und muß nachträglich oft erheblich korrigiert werden. Im September vergangenen Jahres änderte das Statistische Bundesamt seine Angaben für 1985 von 2,5 auf 2 Prozent, was immerhin einem Anteil von rund acht Milliarden Mark entspricht. „Wir legen unsere Zuwachsraten nicht mit Zehnteln auf die Goldwaage“, sagte dazu der für die Sozialproduktberechnung zuständige Gruppenleiter im Statistischen Bundesamt, Frank Dorow. Die Statistiker stünden in dem Spannungsfeld, entweder vorläufige Werte mit begrenztem Aussagewert in Kauf zu nehmen, oder keine aktuellen Zahlen vorlegen zu können.

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