■ Jetzt fliegen sie wieder! Kleiner Aufruf zum Kampfniesen: Und kein Auge tränt mehr
Wir sind zahlreich. Wir sind mächtig. Jeder vierte Platz in den Chefetagen ist durch uns besetzt, jeder vierte Sitz im Bundestag gehört uns, jeder vierte Ministerposten. Noch sind wir uns des großen Einflusses nicht bewußt, den wir in allen Bereichen der Gesellschaft besitzen. Obwohl in Deutschland zwanzig Millionen zu uns gehören, verfügen wir über keine Organisationsstruktur und treffen uns nicht auf Massenveranstaltungen. Aber wir beginnen, uns zu erkennen. Besonders im Mai und Juni.
Vor zehn Jahren deutete eine ausgebeulte Hemdtasche mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Raucher hin. Die Bitte um eine Zigarette, um Feuer – und schon ergab sich ein zwangloses Tresengespräch. Heute erkennen wir sofort, daß hinter den meisten Taschenwölbungen medizinische Präparate stecken: „Darf ich eine von Ihren Tabletten haben?“ Das ist noch die unverfänglichste Anmache unter uns Allergikern. Besonders Dreiste bieten von sich aus ihre Nasentropfen an oder lassen den Sprühknopf ihres Asthmasprays keck aus der Hemdtasche schauen.
Ja, wir Pollenfluggeplagten. Lange haben wir uns im Dunkeln versteckt. Haben unsere entzündeten Augen hinter Sonnenbrillen verborgen. Haben die geschwollenen Nasenflügel mit Abdeckcreme bearbeitet. Allmählich aber, seit Allergien nicht mehr gesellschaftlich geächtet, sondern zum Partygespräch Nummer eins avanciert sind, geben wir uns zu erkennen. Papiertaschentücher werden zur begehrten Kneipenattraktion. Ein geplatztes Äderchen im Auge kann Anlaß für die mitfühlende Anteilnahme einer Leidensgenossin sein.
Trotz des erwachenden Selbstbewußtseins: Unsere Probleme existieren weiter, lassen sich nicht schönreden. Im vergangenen Sommer wurde mir ein Biergarten zur Qual. Während die anderen neun am Tisch Sitzenden der Statistik trotzten und sämtlich allergiefrei feierten, blieb mir die Luft weg. In solchen Situationen taucht stets dieselbe Frage auf: Wer ist dafür verantwortlich, daß sich mein Körper gegen die natürlichsten Dinge wehrt?
Zwei Partygäste erbarmten sich. Wir fuhren in die Innenstadt und setzten den Abend in einem Irish Pub fort. Kaum erreichte mich die verbrauchte Kneipenluft, angefüllt mit Zigaretten- und Bierdunst, war meine Nase frei. Da entstand die erste Vermutung: Könnte es sein, daß Kneipenwirte, die keinen Biergarten besitzen und deshalb im Sommer Umsatzeinbußen hinnehmen mußten, sich zusammengeschlossen haben und die Luft mit einem Stoff anreichern, der uns auf Blütenpollen allergisch reagieren läßt?
Einen Tag später erzählte ein heuschnupfengeplagter Freund, er sei in eine Souterrainwohnung gezogen, was seine Beschwerden gelindert habe. Pollen flögen wohl gern oben, vermutete er. Außerdem sei es für Allergiker von Vorteil, wenn die Sonnenstrahlen ihre Nasen nicht zusätzlich kitzelten.
Ich machte es ihm nach und wählte einen Keller im zweiten Hinterhof, weit weg von jedem Garten – eine Wohnung mit rußenden Allesbrennern, Heerscharen von Ameisen und kaputten Fenstern. Der Vermieter und ich waren zufrieden – er hatte die Wohnung eineinhalb Jahre nicht vermieten können, ich empfand es als Erleichterung, unterirdisch zu leben. Doch meine Vermutung veränderte sich: Ich tippe nun auf die Vermieter von Souterrainwohnungen als Urheber der Allergien.
An die Theorie, Allergien entstünden durch die zunehmende Umweltverschmutzung, kann ich hingegen nicht glauben. Die Chefs der Autoindustrie betrachte ich als Freunde: Mir fiel auf, daß ich den halben Sommer im Auto verbringe. Am liebsten fahre ich in der Stadt umher oder auf Autobahnen im Ruhrgebiet, fern aller blühenden Wiesen. Die Lüftung schalte ich nur ein, wenn ich weniger als zehn Meter hinter einem anderen Wagen fahren kann. Der Geruch frisch verbrannten Benzins lindert meine Beschwerden.
Seitdem bin ich sicher: Die Autoindustriechefs und die Mineralölbosse helfen uns, indem sie ein Antiallergikum ins Benzin schütten. Ihr Engagement machen sie auch durch den Einbau von Pollenfiltern in die Klimaanlagen der Autos deutlich. Zugegeben, nicht ganz billig, aber wenigstens denkt jemand an uns.
Doch unsere Feinde müssen aufpassen. Wir erwachen. In zehn, fünfzehn Jahren werden wir die absolute Mehrheit in jeder Regierung und in jedem Aufsichtsrat stellen. Dann werden Forschungsgelder umgeleitet und Allergieverursacher (wie die Besitzer unvermietbarer Souterrainwohnungen oder die Verkäufer von Sonnenbrillen) hart bestraft.
Bis dahin träume ich des Nachts, wenn meine Nase besonders stark anschwillt, von der Revolution der Allergiker. Wir rotten uns zusammen. Wir ziehen unsere Asthma- und Nasensprays hervor und dringen in die durch Blütenhecken geschützte Zentrale unserer Feinde ein. Wer sie sind, kann ich noch nicht klar erkennen. Doch ich höre unser wütendes, millionenfaches Kampfniesen. Ich sehe eine Schlacht voll archaischer Gewalt, an deren Ende wir als Sieger aus dem Gebäude treten. Unser Nasenspray haben wir verschossen, aber jeder von uns hält einen blühenden Kirschbaumzweig in der Hand. Und kein Auge tränt. Lennart Paul
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