Jemen in der Krise: Bald ein zweites Somalia
Nicht nur für Ausländer ist der Jemen riskant. Auch der Staat ist in Gefahr. Das Land kämpft mit Aufständischen, Extremisten und einem korrupten Regime.
Der Jemen ist die einzige Republik auf der Arabischen Halbinsel. Sie entstand 1990 durch die Vereinigung des von Stämmen dominierten Nordjemens mit der Demokratischen Volksrepublik im Süden. Während der von einem absolutistischen Imam beherrschte Norden mit der Hauptstadt Sanaa jahrhundertelang völlig von der Außenwelt abgeschnitten war, regierten im liberaleren Aden zunächst die Briten, dann die Sozialisten. Staatschef Ali Abdullah Saleh amtiert seit mehr als 30 Jahren in Sanaa, doch seine Macht bröckelt. Im Süden mehren sich die Rufe nach Sezession, im Norden schwelt seit fünf Jahren ein Bürgerkrieg mit schiitischen Rebellen. Al-Qaida, die den Jemen lange als Rückzugsraum nutzte, hat dem prowestlichen Regime mittlerweile den Kampf angesagt. Die Armut ist im Jemen größer als in allen anderen arabischen Ländern. Jeder Zweite lebt von weniger als zwei Dollar pro Tag. Die Ölvorräte reichen nur noch wenige Jahre, das Grundwasser wird knapp. KH
Im Radio läuft südjemenitische Folklore, vor der heißen Mittagssonne schützen dicke Mauern aus gebrannten Lehmziegeln. Ein Bärtiger im bunten Wickelrock stellt eine brodelnde Schüssel Salta auf den Steinboden. Alle tauchen ihr Fladenbrot in den bitter-scharfen Eintopf aus Gemüse und Hackfleisch: Der Maler mit dem langen Bart, die schwarz Verschleierte, der Bildhauer in Jeans und blauem Hemd. Das Essen wird geteilt, so ist das seit Tausenden Jahren Tradition in Südarabien.
Die Künstler hat das Goethe-Institut in den Hof des Nationalmuseums von Sanaa geholt. Ihre Aufgabe: Mauersteine gestalten. Die zweieinhalb Quadratmeter großen Styroporblöcke sind mit Leinwand bezogen, sie sollen an eine Miniaturausgabe der Berliner Mauer erinnern. Denn wie Deutschland war der Jemen geteilt, viereinhalb Monate vor den Deutschen feierten die Jemeniten 1990 ihre Einheit. Deshalb hantieren die Künstler jetzt mit schwarzer, roter und gelber Acrylfarbe - und teilen ihr Mittagessen: vier aus dem ehemaligen Nordjemen und vier aus dem einst sozialistischen Süden.
Der hektische Verkehr, die Krummdolche vor den Bäuchen der Männer, die schmutzigen Kinder, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Taschentüchern bestreiten - sie bleiben draußen vor den Museumsmauern. Hier drinnen: Eintracht, Gelassenheit, ein sorgloses Picknick. Bis aus dem Lautsprecher des Kofferradios der scheppernde Militärmarsch ertönt, der die Zwölfuhrnachrichten des staatlichen Rundfunks ankündigt. Rima Kassim springt auf. "Ich kann keine Nachrichten mehr hören", sagt die Malerin, die einen bodenlangen, von der Acrylfarbe bunt gesprenkelten Mantel und ein Kopftuch aus schwarzer Kunstfaser trägt. "Immer nur Einheit, Versöhnung, Vaterland." Die 40-Jährige stemmt die Fäuste in die Hüfte. "Ich habe beschlossen, alles, was mit Politik zu tun hat, zu ignorieren."
Das ist vielleicht nicht die schlechteste Strategie in diesem Land. Denn während Kassim und ihre Kollegen deutsch-jemenitische Einheitssymbolik verarbeiten, gehen in Aden 300 Kilometer weiter südlich wieder Tausende auf die Straße und protestieren gegen das, was sie als Bevormundung und Siegerjustiz empfinden. Die Soldaten schießen scharf auf die Demonstranten, es gibt Tote. Der Al-Qaida-Anführer im Jemen ließ erst vor Kurzem verbreiten, er unterstütze den Süden im Kampf um Unabhängigkeit: der Islamist an der Seite von ehemaligen Sozialisten. In den Bergen im Norden schwelen die Kämpfe mit schiitischen Rebellen, die Regierung sagt, sie wollten einen Gottesstaat errichten. Und nach dem Einbruch der bescheidenen Öleinnahmen steht das Land vor dem Bankrott. Wasser wird immer teurer. Dauernd fällt der Strom aus. "Das ist doch zum Verzweifeln", sagt Kassim. "Man wird verrückt, wenn man sich in diesem Land um Politik kümmert."
"Deprimierend", sagt auch ihr Mann. Salih Noaman sitzt im kühlen, fast fensterlosen Erdgeschoss des 300 Jahre alten Turmhauses in der Altstadt auf einer Matratze am Boden. Doch anders als seine Frau schaltet er die Nachrichten nicht aus. Im Gegenteil, wenn al-Arabia für Handys oder Autos wirbt, wechselt der 54-Jährige zu al-Dschasira. Nur den jemenitischen Staatssender überspringt Noaman. "Höchstens, um mal eine Präsidentenrede in voller Länge zu hören." Er fährt sich über den grauen Stoppelbart und verzieht sein spitzbübisches Gesicht zu einem Grinsen. "Aber wenn ich darüber nachdenke, wie die korrupte Regierung mit unseren Ressourcen umgeht, welche Vorstellung von Demokratie hier herrscht, wer uns da regiert. Da würde man doch am liebsten abhauen. Bloß wohin?"
Noaman arbeitet als Berater für Unicef in Sanaa: Er geht nicht, sondern will seinem Land helfen, den Kampf gegen die Unterentwicklung zu gewinnen. Jeder zweite Erwachsene kann nicht lesen und schreiben, jedes zweite Kind gilt als unterernährt, der Landwirtschaft geht das Wasser aus. Schon jetzt vermag sie die Jemeniten nicht mehr zu ernähren. Und es werden immer mehr. Aus den acht Millionen in den 70er Jahren sind rund 24 Millionen geworden. "Eigentlich ist das aussichtslos", sagt Noaman. Er will es trotzdem versuchen.
Rima Kassim führt durch die kleinen engen Räume in den unteren Stockwerken, hier richtet sie gerade eine Galerie mit ihren Bildern ein: abstrakte Werke, bunt, mit sanften Rundungen und klaren Kanten. Vor 50 Jahren wurden hier unten Ziegen gehalten und Getreidesäcke gelagert. "Nicht den Kopf stoßen", sagt Kassim und zeigt durch die niedrige Türöffnung in den kleinen Nebenraum, in dem noch eine steinerne Mühle steht. Bis vor ein paar Monaten wohnten Sprachschüler in den sechs Stockwerken, doch mittlerweile sind kaum noch Ausländer in der Altstadt. Es gibt Reisewarnungen, die Arabischkurse werden abgesagt, Entwicklungshelfer reisen ab. Kassim kann sich noch daran erinnern, wann sie die letzte Reisegruppe in der schmalen Gasse vor ihrem Haus gesehen hat. "Das muss vor vier Wochen gewesen sein", sagt sie. Dabei ist die Malerin auf Touristen angewiesen. "Jemeniten kaufen keine Kunst."
Früher, noch vor drei, vier Jahren, kamen die Urlauber täglich vorbei: Italiener, Amerikaner, Deutsche. Da hatte es noch keinen Selbstmordanschlag auf Touristen gegeben, noch keine tödliche Attacke auf die US-Botschaft, noch keinen Aufruf einheimischer Al-Qaida-Leute, westliche Ausländer zu töten. Das Einzige, wovor Reisende Angst haben mussten, waren Entführungen durch Stammesleute - im Vergleich zu den jüngsten Bluttaten harmlose Mittel, um Druck auf die Regierung auszuüben und den Bau einer Straße durchzusetzen oder einen Verwandten aus dem Staatsgefängnis freizupressen. Exdiplomat Jürgen Chrobog, das bislang prominenteste Entführungsopfer im Jemen, schwärmte Ende 2005 von einem "unglaublich schönen Reiseland" - nach seiner Freilassung. Er sei gut behandelt worden, bescheinigte der damals 65-Jährige seinen Entführern. Sie hätten sich "als Gastgeber absolut anständig verhalten".
Was hat sich seitdem geändert? Gelten die ehernen Regeln der Gastfreundschaft nichts mehr? "Mit der Wirtschaft geht es steil bergab, die Armut wächst, und es wird zu weiterer Gewalt kommen." Abdullah al-Fakih macht aus seinem Pessimismus kein Hehl. "Die Regierung kämpft an so vielen Fronten, sie ist dem nicht mehr gewachsen." Der Politikprofessor beginnt eine lange Aufzählung. "Die Separatisten im Süden, die Aufständischen im Norden, die Islamisten, die Reformer in den eigenen Reihen? Die normalen Bürger! Es gibt kein Vertrauen mehr in dieses Regime."
Lange sei es dem Präsidenten gelungen, Scheichs und Stammesführer mit Geld, Ämtern und anderen Zuwendungen in sein fein austariertes System der Abhängigkeiten einzubinden und sich gewogen zu machen. "Aber dafür fehlt heute das Geld. Die Ressourcen sind weg. Wir sind pleite", sagt Fakih.
Wer den Politologen der Universität Sanaa zu Hause besucht, muss pittoreske Architektur, schmucke Gipsbordüren und bunte Oberlichter weit hinter sich lassen. An einer unbefestigten Seitenstraße ganz im Norden der Stadt steht zwischen halbfertigen Betonbauten ein unverputztes Haus. "Die soziale Kontrolle in der Altstadt wäre nichts für mich", sagt Fakih. "Jeder weiß immer, was du machst und wo du gerade bist." Doch auch hier draußen blieb der streitbare Professor nicht unentdeckt. Besuchern zeigt er gern die Einschusslöcher in seinem Geländewagen: Die Quittung für ein bisschen zu viel Kritik. "Sie wollten mich erschrecken." Fakih lacht sein meckerndes Lachen. Wer genau ihn erschreckt hat und warum, diese Fragen lässt er lieber offen.
"Es gibt gewisse rote Linien", sagt er. Kritik an den Verhältnissen sei erlaubt, Namen zu nennen nicht. Deshalb kann Fakih auch über die unkontrollierbare Korruption klagen, die Allianzen zwischen hochrangigen Regierungsleuten und islamischen Extremisten, den mangelnden Willen zu Reformen an der Spitze des Staates. Er darf sogar sagen, dass der Jemen in wenigen Jahren wie Somalia enden wird, als gescheiterter Staat in den Händen konkurrierender Warlords - wenn es der Regierung auch weiterhin nur darum geht, an der Macht zu bleiben. Er nennt ja keine Namen.
Zurück in der Altstadt, bei Rima Kassim und Salih Noaman auf dem Dach. Seit Jahrhunderten hält ein traditioneller Putz aus Kalk den Regen ab, der hier zweimal im Jahr die trockenen Flussbetten volllaufen lässt. Doch das Flachdach hat Risse bekommen. "Alle paar Jahre muss das renoviert werden. Der Besitzer lässt es verrotten."
Noaman zeigt zum Horizont. Hinter den unzähligen Minaretten der Altstadt sind auf der alten Flughafenstraße die Kuppeln der strahlend neuen Präsidentenmoschee zu erkennen, eine riesige Halle mit Platz für Zehntausende Gläubige. "60 Millionen Dollar", sagt Noaman. Dann zeigt er nach unten. Auch gleich neben dem Haus steht eine kleine Moschee, doch der dazugehörige riesige Garten ist eine hart verkrustete braune Brache. Früher hätten die Nachbarn hier Zwiebeln, Tomaten und Salate angebaut, erzählt Noaman. "Aber der Brunnen ist schon vor Jahren trocken gefallen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking