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■ Jelzins Politik ist bar jeder demokratischen LegitimitätDie Diktatur des Demokraten

Jelzins Sieg ist entmutigend. Besteht er doch in der Auflösung eines Parlaments, der Beschießung eines Parlamentsgebäudes, der Beseitigung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, der systematischen Entlassung von Gegnern des Präsidenten und nicht zuletzt dem Verbot beziehungsweise der Zensur von oppositionellen Medien. Daß es vor allem rechtsextreme Zeitungen und Organisationen traf, kann kaum beruhigen. Denn erstens traf es nicht nur solche, und zweitens konnten sich die Verbote rechtlich nur auf den Willen des Präsidenten stützen. Mit der Verfassung war schließlich die Basis der Rechtsordnung beseitigt.

Es gab gute Argumente für Jelzins Vorgehen. Das gockelhafte Verhalten Chasbulatows, der immer rabiatere Nationalismus Ruzkois – der sich mit seinem Aufruf zum Aufstand zweifellos nicht nur als skupellos und unverantwortlich, sondern auch als töricht erwies – wirkten gespenstisch. Ein Sieg der bewaffneten stalinistisch- nationalistischen Abenteurer, die das militärische Eingreifen provozierten, wäre gefährlich gewesen. Kriegshelden gehören hinter die Schnapsflasche und nicht in die Politik.

Sicherlich hatte auch im Parlament imperiales Gedankengut immer mehr an Boden gewonnen. Es aber insgesamt als stalinistisch-faschistisch zu kennzeichnen, ist übertrieben. Das Parlament, so wird immer wieder betont, sei noch nach sowjetischen Regeln in sowjetischer Zeit gewählt worden. Es habe daher über keinerlei Legitimität verfügt. Jelzin hingegen sei mit überwältigenden Mehrheiten in sein Amt gekommen und danach sogar plebiszitär bestätigt worden. Er sei mithin der einzig legitime Politiker in Rußland.

Wie in jeder guten Propaganda werden hier Fakten und Fiktionen bis zur Glaubwürdigkeit miteinander verwoben. Man erinnere sich: Die Wahl des eben aufgelösten Parlaments wurde trotz aller problematischen Umstände seinerzeit als echte Wahl gefeiert. Sicherlich hatten damals Parteien gefehlt, und der ganze Vorgang ähnelte teilweise einem Glücksspiel. Aber eine traditionell sowjetische Wahl war es eben nicht.

Sicher entsprach dieses Parlament von Anfang an nicht den Wünschen vieler Demokraten und Marktwirtschaftler. Immerhin aber wählte es Jelzin gegen den Widerstand Gorbatschows und des sowjetischen Establishments zu seinem Parlamentspräsidenten und schanzte ihm weitreichende Befugnisse zu. Als Nachfolger in diesem Amt hat Chasbulatow nur jene Macht genutzt, die sich Jelzin 1990 auf den Leib schneidern ließ. Auch später noch ähnelte das russische Parlament keineswegs einer Versammlung verbohrter brauner Stalinisten. Es schuf auf der Basis seiner Verfassung für Jelzin das Amt des russischen Präsidenten, in das er im Frühjahr 1991 auch hineingewählt wurde. Wer diesem Parlament die Legitimität abspricht, spricht sie also letztlich auch dem Präsidenten ab. Denn jenseits einer gültigen Verfassung verschaffen auch überwältigende Mehrheiten keinem Staatsoberhaupt demokratische Legitimität. Die in Rußland überall herrschende Anarchie wurde immer wieder der mangelnden Autorität im Zentrum zugeschrieben. Für tiefgreifende Reformen, so wird argumentiert, bedürfe es einer sehr starken Hand. Aber Jelzin mehrte das Chaos aktiv. Er baute wie jeder, der die Macht ungeteilt will, Parallelstrukturen auf, die ihm direkt unterstanden und auf den bestehenden Staatsaufbau von oben zugreifen sollten. Er kopierte den Kompetenzwirrwarr durch den gesamten Staatsapparat. Daß die Bürokraten nicht schrumpften, versteht sich von selbst.

Jelzin ist von seinen Freunden der Zauderei bezichtigt worden. Nachdem er im August 1991 zum Volks- und Medienhelden geworden war, hätte er erstens das Parlament sofort auflösen und zweitens eine eigene demokratische Partei als Machtbasis aufbauen sollen. Warum sollte er im Herbst 1991 das Parlament auflösen? Es hatte eben den Putschisten getrotzt und sich gegen ihre Panzer im „Weißen Haus“ verschanzt. Chasbulatow und Ruzkoi waren Jelzins Verbündete und teilten einen Abglanz seines Ruhmes. Das Parlament war schließlich die Bühne, auf der ein triumphierender Jelzin seinen politischen Antipoden Gorbatschow vor laufender Kamera erledigte.

Wer Jelzin vorwirft, er habe es versäumt, eine eigene demokratische Partei aufzubauen, hat nicht zugehört. Jelzin hat sich stets als Präsident Rußlands beziehungsweise des russischen Volkes gesehen und nicht als Emissär einer politischen Richtung. Deshalb verstand er sich als Demokrat, und deshalb mußten seine Gegner antidemokratisch sein. Als Parteivorsitzender hätte Jelzin nicht mehr das Ganze, sondern eine Fraktion vertreten.

Als Jelzin am 21. September 1993 die russische Verfassung für ungültig erklärte, verwiesen die meisten Kommentatoren darauf, daß sie noch aus den Zeiten Breschnews stammten. Es kommt aber weniger darauf an, wann eine Verfassung erstmals verkündet wurde, als darauf, wie sie jetzt aussieht. Sicher war die russische Verfassung auch in der nachsozialistischen Zeit widersprüchlich und in vielem unsinnig. Die Doppelung von „Kongreß der Volksdeputierten“ und „Oberstem Sowjet“ war etwa teuer und überflüssig. Der schwerwiegendste Konstruktionsfehler aber war die mangelnde Abgrenzung von Exekutive und Legislative.

In sowjetischer Zeit trat der Widerspruch nicht störend in Erscheinung, denn über die ungeteilte Macht verfügte ohnehin die Spitze der KPdSU. Einer der ersten Demokratisierungsschritte hätte die klare Kompetenzbegrenzung sein müssen. Ein Parlament, dessen Führung sich exekutive Befugnisse, und ein Präsident, der sich per Dekret legislative Macht anmaßen, müssen fast unvermeidbarerweise sich gegenseitig zu beseitigen trachten. Der Präsident hätte auf seine legislativen, das Parlament auf seine exekutiven Befugnisse verzichten müssen. Das aber geschah gerade nicht; und das Parlament ist hier gewiß nicht der Hauptschuldige.

Denn als Parlamentspräsident hatte sich Jelzin vom russischen Parlament per Verfassungsänderung eine große Machtfülle geben lassen. Als er sich durch Verfassungsänderung das Amt des Präsidenten schaffen ließ, steigerte er seine Machtfülle noch. Wenn dem Parlament hier etwas vorzuwerfen ist, dann Willfährigkeit gegenüber den politischen Ambitionen Jelzins.

Jelzin hatte entsprechend auch nichts gegen die Verfassung, solange das Parlament sich fügte. Das Parlament wurde abgeschafft, weil es sich querstellte und also politisch falsch zusammengesetzt war, weil es gegen den neoliberalen Crash-Kurs Gaidars opponierte und es zunehmend den Präsidenten selbst angriff und auszuhebeln trachtete. Aber selbst unterstellt, Gaidar und seine Freunde hätten vollständig recht und seine Gegner vollständig unrecht – ist ein Parlament nur dann legitim, wenn es die „richtige“ Politik vertritt? Muß man es auflösen, wenn es zu „falschen“ Entscheidungen tendiert? Daß ein demokratischer Staat nur dann funktioniert, wenn er Regeln folgt, wenn es niemanden gibt, der sich über das Gesetz stellen kann, ist Jelzin und vielen, die ihre Hoffnungen in ihn setzten, ein fremder Gedanke geblieben.

Jelzins Vorgehensweise hätte schon an seinem Umgang mit dem Verfassungsrat deutlich werden können. Er hatte ihn selbst als eine Art Verfassungsgericht schaffen lassen und den Vorsitzenden Sorkin ausgesucht. Als das Klima im Herbst 1992 hitziger wurde, verriet Sorkin ungebührliche Sympathie für Jelzins Gegner. Andererseits jedoch soll der Vorsitzende eines Verfassungsgerichtes doch wohl die bestehende Verfassung stützen. Wie sollte er dann die Strategien eines Präsidenten beurteilen, der die Verfassung für ein veraltetes Stück Kommunismus erklärte, sobald seine Gegner sie gegen ihn ins Feld führten. Daß Jelzin jetzt den Verfassungsrat beseitigte, war daher konsequent.

Nicht ganz zu Unrecht wird immer wieder darauf hingewiesen, in welch undemokratischen Traditionen Rußland stehe, wie fremd ihm noch die Vorstellung einer Legitimität des institutionalisierten Rechtes sei, wie zynisch es noch Macht und Recht einfach gleichsetze. Die Vorstellung, Demokratie mittels der Diktatur eines starken Demokraten durchzusetzen, wirkt aber nicht nur paradox, sie ist auch unrealistisch. Außer der Rhetorik läßt nichts vom dem, was an Verfassungsvorstellungen Jelzins bisher bekanntgeworden ist, irgend eine Selbstbescheidung erkennen.

Von jetzt an kann sich Jelzin nur noch auf die massenhafte Zustimmung der Bevölkerung stützen, von der künftig niemand mehr weiß, ob sie gezinkt ist. Aber angenommen, Jelzin sei ehrlich und verstehe unter Demokratie mehr als die Herrschaft des mächtigsten Demokraten – dann hätten seine Berater noch viel Schutt beiseite zu räumen. Denn wie soll eine neue russische Verfassung jetzt noch glaubwürdig gemacht werden, wie soll eine Opposition noch vor jenen geschützt werden, die glauben, im Recht zu sein?

Einen Machtfaktor aber wird keiner mehr außer acht lassen können: Es war die Armee, die Jelzins Putsch entschieden hat. Gleichgültig mit welchen Mehrheiten er einst gewählt wurde, daß er jetzt an der Macht ist, verdankt er der Militärführung. Und mit der Beschießung des Parlaments hat die Armee genau das getan, was alle Armeen gerne tun, wenn sie auf die Macht zurollen. Das demokratische Experiment, das mit dem verhaßten und angeblich lächerlichen Stalinisten Gorbatschow begonnen hat, ist beendet. Alles andere ist offen. Erhard Stölting

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