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Jelzin erreichte Kompromiß

Moskau (dpa/taz) — Darauf hatten Jelzins Minister offenbar nur gewartet. Nach acht langwierigen Sitzungstagen des russischen Volksdeputiertenkongresses, mit harter Kritik am Reformkurs von Seiten der Abgeordneten, Rücktrittsdrohungen des Kabinetts und scheinbarem Einlenken des russischen Präsidenten, erlaubte sich gestern der Parlamentsvorsitzende Ruslan Chasbulatow einmal Klartext zu reden: Das Rücktrittsgesuch des Kabinetts sei nichts als ein billiger „Erpressungsversuch“ von „Jungs, die ein bißchen den Kopf verloren haben“.

Das war zu viel für die gescholtenen Herren Minister, die in den Worten Chasbulatow einen willkommenden Anlaß sahen, noch glaubwürdiger die Rolle der Gekränkten zu spielen. Auf ein Zeichen von Gennadi Burbulis, dem engsten Jelzin-Vertrauten, verließ das Kabinett geschlossen die Sitzung. Chasbulatows recht trockene Reaktion auf die Vorgänge, mit denen die Minister den Kongreß zwingen wollen, seine Kritik rückgängig zu machen: „Regierungen kommen und gehen. Das Wichtigste ist, daß es einen Präsidenten und ein Parlament gibt.“ Auch er, von Beruf Wirtschaftswissenschaftler, hat sich in den vergangenen Monaten als harter Opponent der Regierung hervorgetan. Diese, so findet er, habe wiederholt bewiesen, daß sie einfach „inkompetent“ sei. Deshalb spielt Jelzin, der inzwischen nicht mehr am Kongreß teilnimmt, den Beleidigten. Seine Beraterin Galina Starowoitowa sagte, er fühle sich von Chasbulatow verraten, weshalb er den Debatten fernbleibe. Doch er arbeite im Stillen bereits an einem Kompromiß. Während die Abgeordneten weitertagten, traf sich Jelzin mit seinen Stellvertretern im Kabinett zu einer Krisensitzung. Das Ergebniss umfangreicher Beratungen: Eine Kommission des Kongresses wurde beauftragt, mit der Regierung zu verhandeln, die darauf besteht zurückzutreten, wenn sie ihren radikalen Reformkurs nicht fortsetzen kann.

Vize-Präsident Alexander Ruzkoi griff unterdessen die Regierung am Rande des Kongresses erneut an. Das Kabinett habe „Kritik verdient“, sagte Ruzkoi nach einer Meldung der Nachrichtenagentur 'Interfax‘. Jene Minister, die sich in der ersten Reformphase „verantwortungslos“ verhalten hätten, müßten ausgewechselt werden. Seinen Worten zufolge, hat sich Jelzin die Kritik der vergangenen Tage „sehr zu Herzen“ genommen. Die demokratischen Fraktionen im Kongreß bereiteten einen Kompromiß vor, demzufolge die gegenwärtige Reform-Regierung ihren radikalen Kurs bis zum Dezember fortsetzen kann. Der Kongreß beriet jedoch zunächst nicht über diese Variante, sondern setzte bis zum Nachmittag die Debatte mit Verfassungsänderungen fort.

Und dann, gegen Abend, der für Jelzin krönende Abschluß des Tages.

Im Tauziehen mit dem noch weitgehend von Altkommunisten beherrschten Volksdeputiertenkongreß Rußlands wurde offenbar ein Kompromiß erreicht. Nach Auskunft führender Mitarbeiter des Präsidenten ermöglicht er Jelzin die Fortführung seiner Wirtschaftsreformen. Der Deputiertenkongreß stimmte mit 530 gegen 236 Stimmen bei 67 Enthaltungen für eine Entschließung, die es Jelzin erlaubt, seine umfassenden Vollmachten als Regierungschef für mindestens drei Monate beizubehalten.

Der stellvertretende Ministerpräsident Jegor Gaidar sagte dazu, im ganzen gesehen ermöglicht es diese Entschließung der Exekutive, die Reformen fotzusetzen.

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