: Jeder dritte Este für Autonomie
■ Hunderttausende Estländer demonstrierten am Sonntag in der sowjetischen Landeshauptstadt Tallinn für wirtschaftliche und kulturelle Autonomie / Die ICP ist auch dabei / Eigene Währung geplant
Moskau (dpa/afp/taz) - In einer „erstaunlich friedlichen Atmosphäre“ verlief am Sonntag eine sechstündige Kundgebung auf dem „Sängerfeld“ der estnischen Hauptstadt Tallinn, an der nach unterschiedlichen Angaben 150.000 bis 300.000 Menschen teilgenommen haben sollen. Jeder dritte Estländer hätte sich auf dem Festplatz eingefunden, telefonierten Teilnehmer begeistert in den Westen. In mehreren Redebeiträgen sei die Unabhängigkeit Estlands gefordert, zwischen den einzelnen Reden seien estnische Volkslieder gesungen worden. Als Redner traten die Führer der inoffiziellen Autonomiebewegung „Volksfront“ und mehrere Intellektuelle - Schriftsteller, Künstler und Historiker auf. Mit großem Applaus begrüßt wurde auch der estnische Parteichef Vaino Väljas, der jedoch nicht das Wort ergriff. Die estnische Partei habe mit den Beschlüssen eines ZK -Plenums am Samstag die Forderungen der Bevölkerung aufgegriffen, erklärte ein Beobachter dieses ungewöhnliche Ereignis. Das Plenum hatte nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur TASS gefordert, die estnische Sprache in allen staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen mit der russischen gleichzusetzen und die estnische Bevölkerung als „Urbevölkerung“ anzuerkennen. Das ZK-Plenum hatte jedoch auch betont, daß die Republik ein untrennbarer Bestandteil der UdSSR bleiben wird.
Gerade dies ist in der Estnischen Nationalbewegung umstritten. Auf der Kundgebung rief der Denkmalpfleger Trivini Velliste dazu auf, für den „Austritt aus der UdSSR zu kämpfen“. Dagegen mahnte der Ökonom und Führer der „Volksfront“, Edgar Swisaar, zur Vorsicht. Er forderte die Esten auf, beim Kampf um mehr wirtschaftliche und kulturelle Selbständigkeit nichts zu überstürzen und klug vorzugehen. Wegen seiner im Vergleich zur übrigen Sowjetunion großen wirtschaftlichen Attraktivität hat Estland wie auch die anderen baltischen Republiken Litauen und Lettland viele Menschen aus anderen Teilen der Union angezogen, so daß vor allem in den Städten die Esten befürchten müssen, in die Minderheit zu geraten.
Laut in Moskau kursierenden Berichten gibt es in Estland Bestrebungen, die Einreise von Angehörigen nichtestnischer Gruppen in die Republik zu beschränken. Auch sei schon die Einführung einer eigenen - estnischen - Währung vorgeschlagen worden. TASS berichtete am Wochenende, die Republik wolle 1990 zur wirtschaftlichen Selbsttändigkeit übergehen. Ohne größere Selbständigkeit der Republik werde die neue Wirtschaftspolitik keinen Erfolg haben, erklärte ZK -Sekretär Indrek Toome vor der Presse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen