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Jan-Paul Koopmann SpeckgürtelpunksZählen statt denken oder Warum eine Pizza besser ist als zweihundert

Foto: privat

Ich glaube, es war in Hameln, wo mich vor einigen Jahren die Suche nach einer Eisdiele in den Wahnsinn trieb. Nicht, weil das per se schwierig gewesen wäre: Gefunden hatten wir ja längst welche. Direkt am Marktplatz, auf dem wir zu viert auf drei navigierende Handys starrten, gab es zwei – laut Internet aber irgendwo anders eben noch eine dritte mit besseren Bewertungen auf Tripadvisor.

Wobei: Ich bin nicht mehr sicher, ob es damals wirklich um Tripadvisor ging, und ehrlich gesagt würde ich nicht mal für Hameln die Hand ins Feuer legen. Wir könnten auch in Rothenburg gewesen sein oder irgendwo im Harz. Keine Zweifel habe ich hingegen daran, dass es beim „besseren“ Eis um Nachkommastellen einer Durchschnittsbewertung ging. Und genauso sicher bin ich, dass ich brutalst genervt von dem Argument war.

Diese Geschichte aus Hameln oder Quedlinburg wiederholt sich in ähnlicher Form seither in steigender Schlagzahl. Mal geht es um die Wahl eines Pizzadienstes auf Lieferando, dann um die Nützlichkeit des Wahl-O-Maten, immer wieder auch um numerische Produktrezen­sio­nen im Onlinekaufhaus. Ja, selbst auf der Arbeit wird sich zunehmend auf Klickzahlen zurückgezogen, denen man weite Teile der Realität abschabt – so, wie es andere Geisterseher schon vor ein paar Tausend Jahren mit dem Fleisch von Opfertieren taten, um im Gedärm nach handfesten Prognosen über die Zukunft zu wühlen.

Was die Zahlen versprechen: objektive Urteile statt geschmäcklerischen Findens und Meinens. Das klingt nach Vernunft, ist aber Quatsch. Nicht nur wegen der Manipulierbarkeit durch Freunde, Verwandte oder Bots der Beurteilten, sondern vor allem auch, weil man eben alles abschneidet, was komplizierter ist als Zahlen zwischen eins und fünf: das also, worüber man nachdenken und zu dem man sich verhalten muss. Quantifizierung ist kein Triumph des kritischen Denkens, sondern seine Abschaffung. Echt jetzt!

Was hat das nun aber mit der körperlichen und geistigen Pendelei zwischen Dorf und Stadt zu tun, von der diese Kolumne ja eigentlich handelt? Es geht um die Breite des Angebots. Mein Zuhause wird von – immerhin! – vier verschiedenen Pizzadiensten angefahren, deren Personal man vom Fußball kennt oder aus der Schule. Schon der Menge wegen käme nicht mal Besuch aus der Großstadt auf die Idee, sie online nach Bewertung zu sortieren. Stattdessen guckt man eben die Angebote durch – und wenn man in wenigen Tagen alle ausprobiert hat, verlässt man sich halt auf (manchmal schmerzhaft) gemachte Erfahrung.

In Metropolen oder touristisch erschlossenen Regionen ist das natürlich was anderes. Da kann man nicht alles essen, selbst wenn man wollte – selbst mit der Lektüre ausformulierter Gastrokritiken aller Berliner Dönerläden könnte man ein bis zwei Leben verbringen.

Bevor hier Missverständnisse aufkommen: Im verkümmerten kulinarischen Angebot des Dorfes schlummert kein Heilsversprechen. Die Welt wird nicht besser, wenn sie ärmer ist, sondern langweiliger. Und vielleicht – ganz vielleicht – ist die pseudoobjektiv verkürzte Weltwahrnehmung sogar besser, als überhaupt nichts zu gucken zu haben.

Im verkümmerten Angebot des Dorfes schlummert kein Heilsversprechen

Aber die Einöde hilft doch dabei, ein gesundes Misstrauen gegenüber der gezählten und gerankten Wirklichkeit zu bewahren. Und die ist ein Problem, weit über dank irreführender Wertungen verpasste Pizzen und Ferienwohnungen hinaus. Wer die Zahl zur Lebensgrundlage erklärt, macht das Leben zum Kampf um die Zahl. Und dann ist es irgendwann auch wirklich egal, ob das nun in Rothenburg, Hameln oder Quedlinburg passiert.

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