Jagd auf "Schurkenbakterium" Ehec: Alarm im Darm des Journalismus
Geht es nach der Alarmpresse, soll ein schurkisches Bakterium "Panik" erzeugen. Wie praktisch, dass vor lauter "Sorge" die echten Schurken vergessen werden.
In den letzten Jahren sind Kleinstlebewesen wie Viren oder Bakterien immer wieder groß in die Schlagzeilen geraten. So war es im Jahr 2005 mit dem Virus H5N1 oder im Jahr 2007 mit dem Virus H1N1 - beide besser bekannt unter den Namen Hühner- beziehungsweise Schweinegrippe. Aber wer so heißt, muss sich nicht wundern, wenn er auf der Beliebtheitsskala ganz unten angesiedelt ist, kurz hinter den Plätzen, die traditionell Figuren wie dem Beelzebub oder Dieter Bohlen vorbehalten sind.
Namen sind beileibe nicht Schall und Rauch, das gilt eben auch für Viren oder Bakterien, wenn sie als Marke im Mediengeschäft bestehen wollen. Das musste auch das in dieser Woche erstmals öffentlich aufgetretene Bakterium Ehec erfahren. Was für ein wissenschaftlich öder Name, der danach verlangt, von schrillen Sirenen aufgeblasen zu werden. "Horror-Keime im Darm", schrie Bild am Dienstag, und schon am Montag kreischte das ARD-Trottelmagazin "Brisant": "Deutschland hat Angst vor einem Bakterium." Wirklich? Ganz Deutschland? Bei dem Alarm im Darm des Journalismus kann das Ehec ja nicht mal mehr "Superstar" werden.
Erinnert sich eigentlich noch jemand an den Noro-Virus, der vor zwei, drei Jahren erstmals landesweit sein Unwesen trieb? Noro klang wie Dr. No und war der Darmschrecken, bevor Ehec auftauchte. Noro kostete bislang weitaus mehr Menschen das Leben als Ehec, aber in unseren aufgeregten Zeiten braucht es eben immer neue Säue, die das Mediendorf in Atem halten.
Ehec sollte sich Style-Berater zulegen
Da kann es schnell vorbei sein mit der Beachtung des Publikums, das sich zwar gern gruselt, aber lieber aus der Distanz. Deshalb sollte sich das gute alte Kolibakterium Ehec schnellstmöglich Medien- und Style-Berater zulegen. Es muss etwas ebenso Gewöhnliches wie Großspuriges her, mit einem Hauch von Dünnpfiff, der die Massen begeistert und Ehec zum neuen Markenprodukt im Sektor schreckliche Krankheiten macht. Und gibt es nicht Vorbilder, deren mediale Wirkung sich diametral gewandelt hat? Wie wäre es denn zum Beispiel mit Carsten Maschmeyer?
Der ehemalige AWD-Vorsitzende war "jahrelang der Aussätzige von der unbeliebten Drückerkolonne. Damals wollten selbst die Chefs jener Versicherer ungern mit ihm gesehen werden, deren Policen er verkaufte", schrieb die Financial Times Deutschland kürzlich. Mittlerweile ist Maschmeyer einer, dem es gelungen ist, alle Türen in Politik und Wirtschaft zu öffnen - bis in die höchsten Stellen. Einer, der die blondeste Schauspielerdarstellerin Deutschlands abgegriffen hat und an ihrer Seite als großherziger Wohltäter zum Liebling des Boulevards mutierte. Einer, an dem alle Kritik abperlt, weil er keine Moral kennt, sondern sie sich kauft mit dem immensen Vermögen, das auf eine Weise zusammengetragen wurde, für die in der deutschen Sprache Worte vorgesehen sind, die unschuldige kleine Bakterien besser nicht kennen sollten. Eben dieser Carsten Maschmeyer ist genau das richtige Vorbild, nach dem selbst ein Darmbakterium Karriere machen kann.
Aber: Die wahren Schädlinge sind gar keine Viren oder Bakterien. Wenn die Handlanger des Boulevards ein Bakterium zum Staatsfeind Nummer eins erklären und ihr Publikum in Angst und Schrecken versetzen, weil der ach so reine Volkskörper angeblich verseucht wird, dann lenken sie damit nur ab von dem Schaden, den die Schurken aus der Gattung Mensch der Gesellschaft zufügen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“