JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE : Das Grausen am Kopf
Man erwarte sich von einem Friseurbesuch keine Seelenmassage. Aber doch zumindest einen Haarschnitt?
Freitagabend kam ich am Deutschen Museum unten an der Isar vorbei. Davor ein Fotografen-Bohei um einen großen Eis-Iglu herum, in den sich, wie ich erfuhr, soeben der schwäbische Magier und „Extremkünstler“ Vincent Vega zurückgezogen hatte, um zum Behuf einer Weltrekordverbesserung 65 Stunden lang den Widrigkeiten zu trotzen. Ich sagte „da schau her“, hatte ich doch kürzlich eine recht ähnliche Prüfung auf mich genommen …
Ich betrat den Friseurladen um vier Uhr nachmittags. Ich habe keine Routine im Betreten von Friseurläden; viel zu lange Jahre meines Lebens trug ich eine wartungsfreie Rastafrisur. Seit man mich vor Zeiten in ebendiesem Laden von ebendieser Frisur befreit hatte, nutzte ich Berlin-Ausflüge traditionell zum Haarabschneidebesuch dort. Es ist ein funky Friseurladen. Als Wartesitzplätze gibt’s funky Gitterbetten, statt Easy Listening funky Technomusik. Und man meldet sich nicht an, sondern zieht eine Nummer. Ich zog die 33, der Zähler stand auf 27; das sollte ja mal flott gehen.
Nach einer Stunde begann ich mein vergessenes Buch zu vermissen. Spießerzeugs wie Lesezirkel gab’s hier nicht, die Party-Flyer hatte ich jetzt alle durchgeschmökert. Und das Gitterbett war die Hölle. Nach zwei Stunden, endlich: 33. Haarewaschen. Bei meinen bisherigen Besuchen erledigte diesen Job eine Mitarbeiterin, die mich mit heißer Brause und beherztem Griff in die Kopfhaut mit der Welt versöhnte. Heute saß da ein gelangweilter Kerl. Er patschte an meiner Birne herum, pritschelte mir Wasser in den Kragen, befestigte dann notdürftig ein Handtuch an mir und scheuchte mich – kalt, nass, unmassiert – zurück aufs Gitterbett.
Nach weiteren 45 Minuten war ich so weit. Ich konnte es sehen. Wie eine Figur in einer H.P.-Lovecraft-Story, der ein Blick ins Herz des Grauens gewährt wird, schaute ich jetzt das Antlitz, blickte ich hinab in den Schlund der geistlosen Zeitverschwendung, der ich hier anheim gefallen war. Ahnungen, wie dieser nunmehr verblühte Nachmittag anderweitig aufs Reizvollste hätte verbracht werden können, tobten in meinem Schädel. Derweil von außen der Techno hämmerte, klare Gedanken erstickend. Wie ein nervöser Panter kurz vor dem vernichtenden Ausbruch … gut: wie ein aufgescheuchtes Huhn kurz vor dem hysterischen Anfall strich ich nun im Wartebereich herum, den aufreizend entspannt über den Technohöllenlärm hinwegplaudernden BarbierInnen wilde Blicke in den Rücken werfend. Und meinen belämmert verrutschten Turban balancierend. Just durchpeitschte mich der Impuls, das Handtuch hinzuschmeißen und mit einem rebel yell aus dem Laden zu stürmen – da stand der Chef-Coiffeur neben mir. „Du hast’s eilig, was?“, fragte er entschuldigend. Ich sei jetzt gleich dran.
Ich sackte zurück aufs Gitterbett. Die Freundlichkeit hatte mir den Druck aus dem Hirn genommen. Gut. Nur war da jetzt dummerweise Platz für einen Gedanken. Verstohlene Blicke in den Spiegel bestärkten mich: sahen die Haare, zumal so frisch gewaschen, nicht eigentlich noch ganz okay aus? Was machte ich überhaupt hier? Innerhalb von Minuten stand mein Entschluss offenbar fest, jedenfalls sah ich mich meinen Mantel nehmen. Der Chef kam hinzu, jetzt nicht mehr so freundlich: ich solle mich doch jetzt mal nicht so haben. Es gelang mir nicht, ihm meinen abrupten Sinneswandel plausibel zu machen, ehe er sich genervt abwandte. Beschämt huschte ich aus dem Laden. Es war kurz vor sieben. Der Wind blies mir die Haare ins Gesicht; was hatte mich nur geritten, die Mistdinger nicht abschneiden zu lassen?
Sonntagnachmittag flanierte ich wieder am Museum vorbei. Der Eisblock lag verlassen da. Noch Freitagnacht hatte Vincent Vega seine Aktion beendet. Gern würde ich berichten, dass er auch einfach sein Buch vergessen hatte und ihm nach ein paar kontemplativen Stunden im Eis klar wurde, dass er sich so ganz ohne Weltrekord eigentlich recht gern mochte. Es ist nämlich die Maxime des Extremkünstlers: Man muss wissen, wann es Zeit ist, den Stecker zu ziehen.
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