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Archiv-Artikel

JOACHIM LOTTMANN ÜBER MARX 2.0 Auf der Alm, da gibt’s oa Sünd

Welches Land versumpft in nassgrauer Tristesse? Der großartige Film „Knochenmann“ zeigt: Österreich

Gestern sah ich auf Anraten meines Neffen Elias – er studiert an der berühmten Münchener Filmhochschule – einen Film im Kino, den ich normalerweise übersehen hätte, nämlich „Knochenmann“ aus Österreich. Es war meine erste kulturelle Konfrontation mit dem vermeintlich zurückgebliebenen Alpenstaat seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise. Bierbichler spielte mit, Hader, Minichmayr, jeder Name für sich ein Synonym für höchste „Kult“-Ansprüche. Und als Gesamtkunstwerk, ich sage mein Urteil vorneweg, ist das Ding auf Augenhöhe mit Tarantino und den Coen-Brüdern, also der ultimativ höchsten und hipsten Hollywood-Stufe.

Aber ich bin kein Cineast. Es reicht mir nicht zu sagen, ein Film sei gut. Ich will wissen, was er mir sagen will. Und „Knochenmann“ sagt mir: Unsere Nachbarn im Südosten haben ihr Selbstbild radikal revidiert. Aus dem feschen Husaren in der farbenprächtigen Uniform ist ein omnipräsenter „Fritzl“ geworden, ein seine Tochter im Keller vergewaltigender all austrian fritzl sozusagen. Das ganze Land versuppt und versumpft in nassgrauer Tristesse, Fleischwölfen, Leichenhallen, zugefrorenen Scheiben, nicht fertiggestellten Spießerhäuschen auf freiem Feld, einer ignoranten und abstoßenden Natur aus schwarzdunklen Wäldern und zugeschneiten Straßen, sowie provinziellen österreichischen Ungeheuern, kurz: einem Personal, gegen das Thomas Bernhards Beschreibungen die reine Schönfärberei waren. Und während der deutsche „Tatort“ in seiner gräulich-grünlichen Ästhetik den gewollt-erzwungenen Realismus immer nur mit Tristesse verwechselt, passt hier bei Hader alles perfekt wie Arsch auf Eimer.

Wo in meinen 50er-Jahre-Filmen das süße Bambi herumsprang, stapft nun der grantige Bierbichler mit dem schweren Beil durchs Gehölz, um damit dem nächsten serbokroatischen Zuhälter den Kopf abzuschlagen. Vorher hat er bereits seine Geliebte zermatscht und schließlich auch noch ersäuft. Das ist nicht Schlingensief, nein, das ist auch nicht splatter movie, das ist der neue stilbildende Standard, den der deutschsprachige film noir mit diesem Meisterwerk erreicht hat. Ein Quantensprung. Eine neue Mischung aus Coolness, Präzision im Detail, schauspielerischer Spitzenleistung und Realismus. Man erkennt ja alles wieder: den Schmäh, die schlechte Laune, die sich in diesem loser-Volk ausgebreitet hat wie ein bösartiger Tumor.

Für mich, der ich die Marianne-Hold- und Hans-Moser-Filme von 1958 so liebe, ist das höchst beunruhigend. Hier ist jedem das Lachen im Dirndl steckengeblieben. Die Deutschen, das einst vergötterte Brudervolk, werden gehasst. Die osteuropäischen Ausländer, die man durch die EU-Osterweiterung in Millionenstärke ins Land bekam, ebenso. Und sich selbst hassen sie am meisten. Sie haben alle Kriege verloren, 80 Prozent ihres Territoriums, schließlich mit der Verzögerung von zwei Generationen ihre Kultur und ihr Bewusstsein. Wie die Indianer.

Das Kino war übrigens ausverkauft. Die Leute kamen wie bekifft aus dem Gebäude, manche machten das verhunzte Idiom der Alpenländer nach. Ich fragte mich dagegen, was das nun mit der Wirtschaftskrise zu tun hatte. Der Film war ja noch vor der Lehman-Pleite abgedreht worden. Er zeigt das Österreich, das seit Jahrzehnten im Aufschwung gelebt hatte. Je größer der Wohlstand, umso finsterer die Stimmung. „Knochenmann“ markiert hier wohl den definitiven Tiefpunkt einer grauenerregenden Kurve. Von hier aus konnte es nicht mehr scheußlicher werden. Deswegen werden die Ösis die globale Krise mit Glockengeläut begrüßen: endlich wieder echtes Elend, wahre Hölle statt künstliche! In Fritzls Keller werden wieder Vorräte gehortet für die kommende Not. Vielleicht kommt auch noch ein autokratisches Regime an die Macht und reinstalliert den Katholizismus der 30er-Jahre? Dann würde auch das Internet endlich verboten und die Ausländer. Dann blähen sich wieder die Brüste der jungen Maderln und auf der Alm gibt’s endlich koa Sünd nimmer. Und ich kann wieder meine alten Filme sehen, ohne Irritation.

JOACHIM LOTTMANNMARX 2.0

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