JEANNINE KANTARA ÜBER DEN KRAMPF MIT DER DEUTSCHEN IDENTITÄT : Wer sind wir?
Kürzlich fragte mich ein französischer Freund: Was meint eure Bundeskanzlerin damit, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert ist, und was heißt das für dich als Afrodeutsche? Ich versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen um mich machen müsse. Deutschland sei selbstverständlich multikulturell, ob Frau Merkel das nun wahrhaben will oder nicht.
Die Bundesrepublik gilt seit Ende der 70er Jahre als Einwanderungsland, doch die Angst vor den Konsequenzen scheint heute größer denn je. Bereits der Anblick einer Frau mit Kopftuch bedeutet eine Bedrohung der deutschen Identität – es sei denn, sie fährt ein Cabrio.
Doch was bedeutet eigentlich deutsche Identität? Geht es um „kulturelle“ oder „ethnische“ Identität? Konservative beharren auf einer Leitkultur und der Verteidigung christlich-abendländischer Traditionen, sie halten Werte der Aufklärung und der Menschenrechte hoch. Doch geht es vielleicht auch um den Traum einer mythischen Reinheit des deutschen Volkes? Die von Migranten bedroht wird?
Wenn Bundesfamilienministerin Schröder „Deutschenfeindlichkeit“ an Schulen ausmacht oder gar „Rassismus“ erkennt, weil jemand diskriminiert werde, der „einer bestimmten Ethnie“ angehöre, ist dies Unfug. Schröder erklärt mit keinem Wort, was sie sich unter einer deutschen Ethnie vorstellt oder wer dazugehört. Thilo Sarrazin bedient mit seinen Thesen Identitätsverlustängste der weißen Mehrheitsgesellschaft. Es geht ihm nicht um Integration, sondern um Selektion. Solche Thesen sind reaktionär. In einer globalisierten Welt ist der Traum von der homogenen, in ihrer Identität statischen Gesellschaft utopisch. Dies gilt auch für Deutschland, das schon immer von Migrationsbewegungen geprägt wurde. Oder wo kommen all die Schimanskis im Ruhrpott her?
Der Mikrozensus 2009 des Statistischen Bundesamtes stellt fest, dass 16 Millionen „Personen mit Migrationshintergrund“ in Deutschland leben, das sind 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Natürlich nimmt dieses Fünftel der BürgerInnen Einfluss auf die deutsche Identität. Jede andere Deutung ist naiv.
Die Menschen, deren Großeltern bereits vor 1949 eingebürgert wurden, haben offiziell keinen Migrationshintergrund mehr, denn er ist natürlich nicht vererbbar. Die Schimanskis sind also längst eingedeutscht. Alles also nur eine Frage der Zeit – wenn es denn keine Hautpigmente gäbe. Afrodeutsche der dritten Generation werden statistisch nicht mehr erfasst. Trotzdem nimmt man sie wegen ihrer Hautfarbe weiterhin als Zuwanderer wahr, egal, wie lange sie schon in Deutschland leben. Eine Erfahrung, die ein weißer zugewanderter EU-Bürger nicht macht. Die Forderungen nach Akzeptanz der deutschen Leitkultur richten sich deshalb nur an diejenigen, die anders sind, und sei es nur durch die Schattierung ihrer Haut oder das Tragen eines Kopftuchs.
Während die Enkelgeneration von Zuwanderern lernt, mehrere unterschiedliche Identitäten zu etwas Neudeutschem zu verbinden, fürchten viele Altdeutsche den Verlust ihrer eigenen Identität. Welcher auch immer. Die Vehemenz, mit der die Verfechter der Leitkultur auf deren Dominanz pochen, ist nicht mehr als ein Rückzugsgefecht. „Wer in Deutschland leben will, muss sich auch nach unserer Alltagskultur richten wollen“, meint die CSU. Doch wer Menschen vermittelt, es bliebe alles so, wie es angeblich schon immer war, verhindert gesellschaftliche Weiterentwicklung.
2011 findet wieder eine Volkszählung statt, die erstmals auch Fragen nach dem „Migrationshintergrund“ stellt. Die Statistik ist weiter als die Politik.
■ Jeannine Kantara, 42, arbeitet im Berliner Büro der Wochenzeitung Die Zeit.