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Iswestija: „Schutzlos“ in der Psychiatrie

■ Sowjetische Regierungszeitung gibt erstmals zu, daß unbequeme Kritiker ohne gesundheitliche Gründe in psychiatrische Anstalten eingewiesen werden / Gesetz zur Überwachung von Medizinern gefordert / Journalisten über die Offenheit der Autorin erstaunt

Moskau (afp) - Die Moskauer Regierungszeitung Iswestija hat zum ersten Mal eingeräumt, daß in der Sowjetunion gesunde unbequeme Kritiker wegen „Schizophrenie“ in psychiatrischen Anstalten behandelt werden. In einer langen Reportage widmete sich die Wochenendausgabe des Regierungsorgans dem Thema. Die Autorin erwähnte, einen Redaktionskollegen habe ihr Unterfangen geradezu „umgehauen“, und er habe sich erstaunt darüber gezeigt, daß man solch ein Thema in der sowjetischen Presse „schon“ aufgreifen könne. „Das Thema war lange Zeit eines, das es nicht geben durfte - man tat so, als ob es keine Geisteskranken in unserem Lande gebe“, so die Autorin. „Nun jedoch schreiben uns Menschen, die sich beklagen, daß sie gewaltsam in psychiatrischen Anstalten festgehalten werden.“ Die Journalistin räumte ein, sie sei „nicht in der Lage, allen Tatsachen auf den Grund zu gehen“, führte jedoch zwei Fälle an, in denen Milizangehörige in Heilanstalten gegenüber Patienten massive Repression ausübten. So beschwerte sich die Mathematiklehrerin Zoja Petrowna so massiv bei der Krankenhausleitung über die ihrer Meinung nach unzureichende Behandlung ihres Krebsleidens, daß man sie kurzerhand in die Psychiatrie überwies. Damit war sie aus dem Verkehr gezogen. Seit 1984 liefen ihre Beschwerden an die Behörden ins Leere. Offiziell als „unzurechnungsfähig“ eingestuft, behielt die „Kranke“ nichtsdestotrotz ihre Stelle als Lehrerin. Die Polizei versuchte mehrfach, sie zu verhaften. Zwei Jahre dauerte es, bis das Gesundheitsministerium sich ihres Falles annahm und die auf „paranoide Schizophrenie“ lautende Diagnose annulierte, welche Ärzte ausgestellt hatten, die die Lehrerin nie untersucht hatten. In einem anderen Fall hatte sich eine Frau namens Anna Iwanowna mehrfach über Nachbarn beschwert, die sie gestört hätten. Sie erhielt eine Vorladung zur Polizei, die sie wiederum zu einem Psychiater schickte, der prompt bei der Frau „Schizophrenie“ konstatierte. Auf die Fragen der Iswestija erwiderte ein Milizkommandant: „Sie hörte nicht auf, (Beschwerden) zu schreiben - also war sie anomal.“ Seit drei Monaten ist Frau Iwanowna inter niert. Das Blatt verfolgte ihren Fall von einer medizinischen Instanz in die andere, und überall erhielt es andere Versionen. Eine auf Betreiben der Zeitung eingesetzte medizinische Kommission befand zwar, die Frau sei „krank“ - ihre Internierung jedoch sei nicht gerechtfertigt. Es sei an der Zeit - so schloß der Artikel - ein Gesetz auszuarbeiten, das „Kontrolle über Medeziner (vorsehe), die in einem so komplexen Bereich wie der Psychatrie“ arbeiteten.

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