piwik no script img

■ Israel: Eskalation der Gewalt in den besetzten Gebieten„Statt Steinen fliegen jetzt Kugeln“!

Mutaridyin – die Gejagten – werden sie von den Palästinensern genannt, Terroristen heißen sie in der israelischen Presse. Nicht ohne einen gewissen Stolz sprechen die Menschen im von Israel besetzten Gaza-Streifen über die Männer, die auf den Fahndungslisten der israelischen Armee stehen. Nach Militärangaben soll es ungefähr 100 solcher Gesuchten im Gaza- Streifen geben. Vorgeworfen wird ihnen meist, sich an militärischen Aktionen gegen die israelischen Siedler und Soldaten beteiligt zu haben. Sie gehören der „Izzadin Kassam“, dem militanten Flügel der islamistischen Hamas, der „Dschihad Islami“, den Falken der Fatah, oder den „Roten Adlern“, der Volksfront für die Befreiung Palästinas, an. „Für die Palästinenser sind sie wie Vögel, die über der Besatzung fliegen“, beschreibt die israelische Journalistin Amira Haas das Phänomen der Gejagten.

Musa Abdel-Aal, 22 Jahre alt, seit über einem Jahr als Mitglied der „Dschihad Islami“ gesucht, kann man auf der Straße in einem der südlichen Flüchtlingslager des Gaza-Streifens treffen, wenn er sich vor den verdeckt operierenden Eingreiftrupps der israelischen Armee sicher fühlt. Mit zunehmender Dauer der Besetzung, einer Eskalation der Situation in den besetzten Gebieten und der Perspektivlosigkeit einer Verhandlungslösung genießen Gruppen wie Abdel Aals Dschihad Islami wachsende Sympathie unter der Bevölkerung im besetzten Gaza- Streifen.

taz: Sie sind seit über einem Jahr von der Armee gesucht, mit dem Vorwurf, sich an einer bewaffneten Aktion beteiligt zu haben. Wie lebt man als Gejagter?

Abdel-Aal: Das Leben wird immer gefährlicher für uns. Früher haben wir meist die Leute angegriffen, die mit den Besatzern kooperiert haben, heute greifen wir militärische Ziele an. Damit sind wir gefährlicher für die Besatzer geworden, und sie konzentrieren ihre Aktionen auf uns. Vor allem mit den Verdeckten Einheiten machen sie es uns schwer, uns zu bewegen. Die Armee kommt ständig in das Haus meiner Familie. Meinen Vater und meinen Bruder haben sie festgenommen, das Haus wurde durchsucht und alles darin kaputtgeschlagen.

Aber wir genießen große Sympathie unter der Bevölkerung und haben die Hoffnung, daß irgendwann einmal alle zur Waffe greifen. Mit dem Phänomen der Gejagten verwandelt sich der Aufstand in eine neue Phase mit einer kontinuierlichen militärischen Komponente. Jeden Tag gibt es in den letzten vier Monaten ein bis zwei Aktionen. Statt Steinen fliegen jetzt Kugeln.

Ist die Besatzung militärisch nicht stärker?

Sicher. Aber wenn wir heute Steine werfen, eröffnet die Armee sofort das Feuer und tötet uns. Dabei richten wir nichts aus. Die militante Aktion bringt dagegen Erfolg. Mit den Erschießungen und Erdolchungen tut sich etwas in der israelischen öffentlichen Meinung, und die Menschen in Israel leben wie wir in ständiger Angst.

Was halten Sie von den Nahostgesprächen, die am 20. dieses Monats wieder beginnen sollen?

Das betrachte ich als gescheitert. Selbst wenn sie uns Selbstbestimmung geben sollten. Das macht noch lange keinen Staat und keine eigene Armee. Sie werden uns nie eine eigenständige ökonomische Entwicklung erlauben. Wer heute einen Kompromiß akzeptiert, der ist schwach. Der würde auch zustimmen, wenn sie uns zum Beispiel nur ein paar Flüchtlingslager zurückgeben würden.

Warum sind Sie der Dschihad- Islami-Gruppe beigetreten?

Sie war von Anfang an gut organisiert und hat sich dabei auf militärische Aktionen konzentriert. Sie nennt sich nicht nur islamisch, sondern ist so islamisch, wie ich mir das vorstelle.

Was bedeutet für Sie islamisch?

Man trifft sich nicht mit dem Feind oder den Ungläubigen, weil es das Ziel des Westens ist, uns zu zerschlagen. Wir wollen die islamische Gemeinschaft reformieren. Deswegen werden wir vom Westen, von den arabischen Regimen und selbst von anderen Gruppen auf der palästinensischen Straße bekämpft.

Gibt es eine Konkurrenz zwischen den Gruppierungen im militärischen Bereich?

Natürlich. Die Leute auf der Straße heute stimmen solchen Aktionen zu. Wer Worte in Taten umsetzt, von dem sind die Leute am meisten überzeugt.

Was halten Sie von der islamistischen Hamas-Bewegung?

Bei all meinem Respekt, die Brüder von Hamas ändern ständig ihren Standpunkt gemäß dem Interesse ihrer Organisation. Zuerst haben sie die PLO bekämpft. Vor einigen Monaten haben sie dann die PLO aufgefordert, in der Frage der Deportierten zu intervenieren. Dann treffen sie sich mit Arafat im Sudan. Sie versuchen Hamas an jede Situation anzupassen. Ihr Sprecher bei den Deportierten Ghantisi im Südlibanon sagt, es darf kein Treffen mit der PLO geben. Die verantwortlichen Hamas- Offiziellen in Jordanien dagegen fordern, man müsse einen einheitlichen Standpunkt mit der PLO finden.

Wie ist Ihr Verhältnis zur PLO?

Wir unterhalten gute Beziehungen zu allen Organisationen, obwohl wir eine Minderheit sind. Sie alle unterstützen unsere Aktionen.

Was möchte der Dschihad Islami in der palästinensischen Gesellschaft erreichen?

Wir richten unsere Ziele nicht danach aus, was die Leute wünschen, sondern danach, was uns Koran und Sunna (die Überlieferung des Propheten Muhammad) uns vorschreibt.

Was bedeutet das für die christliche Minderheit unter den Palästinensern und die palästinensischen Frauen?

Im Gaza-Streifen gibt es nur in Gaza selbst ein paar Christen. Sie sollen Religionsfreiheit haben, müssen selbst religöse Werte vertreten und die anderen respektieren. Mit den Frauen stehen wir erst am Anfang. Zuerst waren manche verschleiert, andere trugen nur die langen vom Islam vorgeschriebenen Kleider, manche waren vollkommen unsittlich gekleidet. Zuerst war es mit den Sitten hier nicht gut bestellt, aber der Aufstand und die Islamisierung hat den Frauen eine neue Rolle gegeben. In einem islamischen Staat müssen die Frauen sich an das islamische Gesetz halten.

Ihre Konkurrenz, die islamistische Hamas, hat sogar Frauen auf der Straße angegriffen, weil sie nicht islamisch gekleidet waren.

Dem stimme ich zu, und sie waren dabei erfolgreich. Jetzt herrschen bessere Sitten in Gaza. All diese unsittlichen Dinge haben unsere Frauen vom Westen, von der Besatzung oder vom Fernsehen übernommen – das müssen wir bekämpfen.

Fühlen Sie sich als Teil der islamistischen Bewegung in der islamischen Welt?

Sicher. Aber es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen. Ein Teil der islamistischen Bewegung wächst so schnell, weil sie sich mit den herrschenden Regimen arrangiert haben. Wer den wirklichen islamischen Weg geht, der wird von der Regierung bekämpft.

Was denken Sie über die Angriffe auf Touristen von seiten eines Teils der Islamisten in Ägypten?

Wir unterstützen diese Bewegung, die die Touristen angreift. Sie bringen die Unsitte, Korruption und Aids ins Land. Außerdem schwächen die Angriffe das System, das selbst korrupt, unsittlich und reaktionär ist. Das Interview führte

Qassem Gidrau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen