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Archiv-Artikel

Irritierende Historie

Archäologe des Cross-Identitären, Gewissen der elektronischen Musik: Terre Thaemlitz im Kunstverein

Ein Archäologe ist in die Stadt gekommen. Sein Name ist Terre Thaemlitz, er ist Fürsprecher experimenteller Elektronika und produziert aus einer queeren Perspektive ein ganz eigenes Verständnis von Clicks & Cuts. Dadurch ist er eine Art politisches Gewissen der elektronischen Musik geworden. Wer nun aber glaubt, Thaemlitz müsse sich deswegen in Differenz-Posen inszenieren, irrt. Denn seine Geschichte kennt nur Differenz, und sie beginnt dort, wo man ihn heute am wenigsten vermutet: in House-Musik.

Schnell entschied sich der damalige Piraten-Radio-Macher Thaemlitz, im Schatten der globalen DJ-Kultur ganz andere Kompositionspläne zu verfolgen. Heute tut er das an seinem japanischen Wohnort Kawasaki. Seine Arbeiten handeln stets vom Wandel, von fluiden Identitäten und, aktuell, von der Rolle des Vergessens in historischen Prozessen. Lovebomb heißt sein im Frühjahr vorgelegter Album-Entwurf, der wie ein Ableger Neuer Musik zu klingen vermag. Thaemlitz gelingt es, in diesem Mikro-Sezieren, in den an Geräusch orientierten, soundtrackartigen Entwürfen kleine populäre Möglichkeitsräume aufzutun, die keinen poststrukturalistischen Spezialdiskurs voraussetzen. Immer möchte er in die Mechanismen der Abschließung eindringen – so funktioniere auch Liebe, meint er.

Als Thaemlitz 1986 von Kalifornien nach New York zog und sich den Gay-Right-Aktivisten von Act Up anschloss, wurde ihm diese Politik zu klaustrophobisch. „Ich merkte, dass ich als weiße, pansexuelle Drag-Queen neben der Jagd auf Schnurrbärte den Drang verspürte, nicht mehr mit der weißen Gay-Mehrheit auf dem Plenum des ‚Main-Floor‘ sitzen zu wollen. Sie errichteten dort Sicherheitszonen, ich wollte sie darin nicht verunsichern. Mir ging es aber um Cross-identitäre Verbindungen. Ich glaube, dass all meine Arbeiten damit zu tun haben.“

Nie hat das bei ihm einen resignativen Unterton oder eine „Me, Myself and I“-Doktrin verursacht. Dann wiederum erfüllt auch Lovebomb konsequent kein einziges Kriterium der überlieferten Harmonielehre. Es sind zerfetzte Sound-Screens, in denen Ereignisse hörbar gemacht werden und durch ihre Verkettungen unbeachtete Ereignis-Zusammenhänge entstehen lassen: 1906 geschieht in Missouri ein Lynchmord, 1909 klimpern italienische Futuristen auf präparierten Pianos – welche Bewegungen wurden dadurch erzeugt? Welche Details lassen sich verkoppeln? Ein Stück von Terre Thaemlitz heißt: „Musical Synthesis of Futurist Lynching“. In seiner irritierenden Geschichtsschreibung ist ungewollt ein obszönes Manifest der Liebe entstanden, das permanent daran zu erinnern weiß, dass Liebe nicht die Antwort ist. ALJOSCHA WESKOTT

Donnerstag, 21 Uhr, Kunstverein