: Irritationen über Moskauer Vorschlag
■ Bonn und Berlin äußern Bedenken gegenüber einer Entkopplung des staatlichen Einigungsprozesses von den Status- und Bündnisfragen
Bonn (dpa/afp) - Die auf dem 4 + 2-Außenministertreffen am Samstag in Bonn von der UdSSR eingebrachte Vorschlag, die praktische Einigung Deutschlands von den komplizierten Bündnis- und Stratusfragen abzukoppeln und später zu beraten, weckt hat in Bonn und Ost-Berlin Bedenken geweckt. Im Kanzleramt wurde gestern vor einer vorschnellen Beurteilung gewarnt. Darüber müsse „noch sehr viel gesprochen werden“.
Bisher habe Bonn die Auffassung vertreten, daß ein vereintes Deutschland der „Wertegemeinschaft der Nato“ angehören müsse. Von dieser Position könne man jetzt nicht so ohne weiteres abgehen, hieß es in der Umgebung von Bundeskanzler Helmut Kohl. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel bezeichnete am Dienstag den sowjetischen Vorschlag als „Vorgang von erheblicher Bedeutung“, der wegen seiner Tragweite noch nicht abschließend beurteilt werden könne.
Demgegenüber hatte sich Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den sowjetischen Vorschlag der zeitlich getrennten Klärung der inneren und der äußeren Aspekte der Einheit begrüßt und zu erkennen gegeben, daß er darin die Chance einer raschen Vereinigung Deutschlands sieht. Differenzen in der Koalition in der Bewertung des sowjetischen Vorstoßes wurden in der Umgebung Kohls nicht bestätigt.
In Ost-Berlin stieß der Vorschlag auf Skepsis. Er könne zwar der deutschen Bevölkerung in den sie unmittelbar betreffenden Bereichen eine schnelle Einigung bescheren; jedoch berge der Vorschlag nach Angaben informierter Kreise im DDR-Außenministerium im Falle fortbestehender Differenzen der vier Siegermächte über die Bündniszugehörigkeit die langfristige Gefahr eines neuen „Versailles-Komplexes“, da die Einigung auf jeden Fall nicht ohne soziale Probleme vonstatten gehen werde.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Sieger in dem Vertrag von Versailles weite Bereiche der deutschen Souveränität eingeschränkt. Das hatte in den 20er und 30er Jahren im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise die politische Radikalisierung und indirekt den Aufstieg der Nationalsozialisten gefördert.
Das Ostberliner Außenministerium stimmt in der Statusfrage mit der amerikanischen Sichtweise überein. Die USA fordern, daß die alliierten Vorbehalte im Rahmen der deutschen Einigung verschwinden müssen. In Bezug auf die Bündniszugehörigkeit bedeutet dies nach amerikanischer Auffasung weitgehend, daß das geeinte Deutschland selbst darüber entscheiden müsse und dies allein mit der Nato aushandeln könne. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse hatte am Samstag in Bonn erklärt, selbst nach Schaffung einer gesamtdeutschen Regierung würden noch einige Jahre „gewisse Maßnahmen wirksam bleiben, die mit der Regelung äußerer Aspekte zusammenhängen“.
Unterdessen warnte der sowjetische Außenpolitiker und Gorbatschow-Berater Wadim Sagladin vor einer neuen Spaltung für den Fall, daß der Westen versuchen sollte, eine Nato -Mitgliedschaft für das vereinigte Deutschland durchzusetzen. Eine Umwandlung der „Vier-plus-zwei„ -Gesprächsformel über Deutschland in „Fünf-plus-eins“ (die drei Westmächte plus beide Teile Deutschlands auf der einen und die Sowjetunion auf der anderen Seite) wäre der Versuch des Westens, „die UdSSR in eine rechtsungleiche Position zu versetzen“. Dadurch würde der UdSSR möglicherweise ein Beschluß aufgezwungen, „der ihre militärstrategische Situation wesentlich verschlechtern würde“.
Am diesem Mittwoch werden die Spitzenvertreter der Bonner Koalition die Ergebnisse des 4+2-Treffens beraten und die weiteren Staatsvertragsverhandlungen mit der DDR abstimmen. Am Donnerstag werden Kohl und Genscher in Regierungserklärungen vor dem Parlament sich zu diesen Fragen äußern.
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