Interview zur EU-Flüchtlingspolitik: Perspektiven statt Diskriminierung

Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein im Interview zur Bevorzugung ukrainischer Geflüchteter und Möglichkeiten der Flüchtlingspolitik.

Werden ukrainische Geflüchtete bevorzugt? Willkommensschild an einer Schule. Foto: picture alliance/dpa | Friso Gentsch

Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V. ist ein gemeinnütziger Zusammenschluss von Initiativen, Gruppen und Organisationen sowie Einzelpersonen der solidarischen Flüchtlingshilfe und Integrationsförderung in Schleswig-Holstein. Die taz sprach mit dessen Geschäftsführer Martin Link über die aktuelle Situation der Flüchtlinge.

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taz: Der Krieg in der Ukraine scheint kein schnelles Ende zu finden. Welches sind aus Ihrer Sicht derzeit die größten Herausforderungen für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine in Ihrem Bundesland?

Martin Link: Ukrainische Geflüchtete haben von Anfang an freie Wohnsitzwahl, Aufenthaltserlaubnis, Sprachkurszugang, Beschäftigungserlaubnis erhalten und gegebenenfalls auch vollständige Sozialleistungen. Mit der EU-Massenzustromrichtlinie wurde so eine rechtliche Ungleichbehandlung zwischen europäischen und aus anderen Kriegen Geflüchteten etabliert. Asylsuchende aus Syrien oder Äthiopien empfinden das als Diskriminierung. Ihnen begegnet niemand mit einem Füllhorn voller Integrationschancen. Es kommt jetzt darauf an, überkommene rechtliche Restriktionen abzubauen und nach dem Vorbild des Umgangs mit den Ukrai­ne­r*in­nen mehr Integrationschancen für alle Geflüchteten durchzusetzen.

Welchen Eindruck haben Sie von der Bereitschaft der Bevölkerung, Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen?

Nach unserer Erfahrung ist die Aufnahmebereitschaft grundsätzlich groß. Wir erleben aber auch, wenn beispielsweise offensichtlich wird, dass auch afrikanische oder andere Dritt­staat­le­r*in­nen aus der Ukraine geflüchtet sind, Hilfsangebote weniger großzügig erfolgen. Die geltende rechtliche Ungleichbehandlung leistet solchem Rassismus Vorschub.

Denken Sie, dass die Flüchtlingsinitiativen, die unter Ihrem Dach operieren, derzeit an ihre Belastungsgrenze geraten?

Mit Blick auf die Versorgung ukrainischer Geflüchteter erreichen uns solche Signale nicht. Die besondere Herausforderung für die Unterstützenden besteht aber darin, im Schatten des Krieges in der Bevölkerung die Toleranz gegenüber Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern zu bewahren und zu verhindern, dass der Amtsschimmel ihnen gegenüber eine schärfere Gangart einlegt.

Oft ist in den letzten Wochen über Koordinierungsdefizite gesprochen worden. Hätten Sie sich aus Ihrer Position heraus, eine bessere Kommunikation und Koordination zwischen Bund und Ländern gewünscht?

Internationale Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, die Migrationswissenschaft, ja selbst die Weltbank mahnen seit Jahren eine proaktive Politik im Jahrhundert der Migration an. Politik hierzulande aber glaubt allen eigenen Erfahrungen zum Trotz stoisch daran, dass flucht- oder andere migrationsauslösende Vorkommnisse in der Welt mit restriktiver Abschottung kontrolliert werden können und hierzulande keinen Bedarf generieren. Solange Bund und Länder das Thema lediglich reaktiv behandeln und in der alleinigen Zuständigkeit der Ordnungs-, sprich der Innenpolitik belassen, sind solche sich in der akuten Bedarfslage offenbarenden Koordinierungsdefizite systemimmanent. Ein Einwanderungsland braucht ständig und optimal untereinander und mit der Zivilgesellschaft vernetzte Einwanderungsministerien und Fachinstitutionen in Bund und Ländern, in denen eine vorausschauende Einwanderungspolitik – zu der auch die in dieser Welt absehbaren Fluchtszenarien gehören – kommuniziert, geplant und unaufgeregt umgesetzt werden kann.

Die Ampelkoalition in Berlin beabsichtigt, ein Gesetzeswerk auf den Weg zu bringen, dass das „Bleiberecht für langfristig Geduldete“ neu regeln soll. Was erwarten Sie sich davon als jemand, der seit vielen Jahren praktische Flüchtlingsarbeit vor Ort leistet?

Der Gesetzentwurf für das sogenannte Chancenaufenthaltsrecht ist entweder kalkuliert restriktiv oder einfach nur weltfremd. Die Anforderungen beispielsweise an Voraufenthalt, Identitätsdokumente oder Sprachkompetenz sind von zahlreichen Betroffenen nicht erfüllbar. Damit wird kaum eine signifikante Anzahl von Menschen aus der Duldung in einen robusten Daueraufenthalt gelangen können. Wenn das Gesetz so bleibt, ist es eine Steilvorlage für eine ermessensnegative Ausländerverwaltungspraxis.

Wie es sich aktuell darstellt, hat nicht jedeR, der/die aus der Ukraine flüchtet, auch ein Bleiberecht in Deutschland und in anderen Ländern der EU. Es gilt nur für diejenigen, die in der Ukraine „dauerhaft“ gelebt haben, nicht allerdings für dortige Arbeitsmigranten und Studenten aus Drittländern. Welche Probleme ergeben sich daraus für die praktische Flüchtlingsarbeit?

Derzeit wird unsere Beratungsstelle von solchen Problemfällen zahlreich aufgesucht. Die Betroffenen befürchten stante pede in die Drehtür zum Heimatland gezwungen zu werden. Doch nicht wenige hatten einst ihre Heimat in einer Bedrohungslage verlassen müssen. Hamburg und Bremen haben Weisungen herausgegeben, die zumindest Studierenden Möglichkeiten eröffnen, ihre Ausbildung hierzulande fortzusetzen. Alle anderen werden ins Asylverfahren gedrängt, in dem aber allenfalls diejenigen Chancen haben, die ein in ihrer Heimat fortbestehendes Verfolgungsrisiko glaubhaft machen können.

Muss die EU mit ihrer Flüchtlingspolitik nicht nachjustieren, um Ungerechtigkeiten zwischen Flüchtlingen aus verschiedenen Provenienzen in Zukunft zu vermeiden?

Nichts leichter als das! Ein EU-Beschluss, der alle Mitgliedsstaaten darauf verpflichtet, auf alle Schutzsuchenden – egal woher sie kommen – die Massenzustromrichtlinie anzuwenden und ihnen den damit verbundenen robusten Aufenthalt und Integrationsförderung zuteilwerden zu lassen, wäre der flüchtlingspolitische Königsweg. Ansonsten gilt: Freedom of Choice und Bleiberecht für alle Geflüchteten!

Betrachten Sie die deutsche Gesellschaft mit der Integration von Flüchtlingen aus Afghanistan, Somalia, Syrien und jetzt der Ukraine als schon überfordert an?

Nein. Die im Wesentlichen vorherrschende Unaufgeregtheit, mit der die Gesellschaft sowohl die 2015, als auch die aktuell nach Deutschland Fliehenden aufgenommen hat und aufnimmt, belegt doch die großen Potenziale des Einwanderungslandes Deutschland. Schulen preisen die hohe Motivation der neuen Schüler*innen, Betriebe wollen auf ihre geflüchteten Mitarbeitenden keinesfalls mehr verzichten, in Quartieren fällt die hohe soziale Kompetenz der neuen Nachbarn auf. Vom angeblichen Scheitern der Flüchtlingsaufnahme reden regelmäßig nur diejenigen, die selbst keine Geflüchteten kennen oder die ihnen aus rassistischen Gründen kein Miteinander zugestehen wollen.

Dieser Text erscheint im taz Thema Weltflüchtlingstag, Ausgabe Juni 2022. Redaktion: Ole Schulz. Frühere Ausgaben des taz Themas Weltflüchtlingstag können Sie hier nachlesen.