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■ Interview mit dem Chefredakteur des „Progressive“, Erwin Knoll, über die Qual der Wahl in den Vereinigten Staaten„Wir brauchen eine dritte Kraft“

„The Progressive“ zählt zu den traditionsreichen, radikaldemokratischen Zeitschriften in den USA. Sie wurde 1909 von Robert LaFolette gegründet, der fünfzehn Jahre später als Kandidat der „Progressive Party“ bei den Präsidentschaftswahlen antrat und immerhin fünf Millionen Stimmen auf sich vereinen konnte. (Präsident wurde der Republikaner Calvin Coolidge). Der „Progressive“ gehört heute – auch nach europäischen Kategorien – zu den linken Zeitschriften in den USA. Wie schon zu Gründerzeiten ist das Blatt auch heute Forum für die Diskussion um eine dritte Partei in den USA.

taz: Zu Beginn dieses Wahlkampfs, als George Bush noch wie der sichere Sieger aussah, prophezeiten viele eine Zerreißprobe oder mögliche Spaltung der Demokraten, falls sie zum vierten Mal hintereinander die Wahl verlieren. Jetzt werden Bill Clinton alle Siegeschancen eingeräumt, und nun zeigen sich bei den Republikanern enorme Risse in der ideologischen und programmatischen Fassade. Wie sehen die Perspektiven der beiden Parteien im Fall einer Wahlniederlage aus?

Knoll: Wenn die Republikaner verlieren, worauf alles hindeutet, dann dürfte der rechte fundamentalistische Flügel seine Dominanz endgültig sichern. Deren Vertreter haben wir ja an prominenter Stelle während des republikanischen Parteitags in Houston gesehen. [Gemeint sind vor allem Pat Buchanan, erzreaktionärer Konkurrent von George Bush im Vorwahlkampf, und Pat Robertson, dessen Lobbyorganisation „Christian Coalition“ auch nachhaltigen Einfluß auf George Bush ausübt, d. Red.] Meiner Einschätzung nach hoffen diese Ultrakonservativen, daß Bush die Wahl verliert. Sie wollen eine demoralisierte Partei erben und nach ihren ideologischen Prioritäten wieder aufbauen.

Auch wenn der Fall wohl nicht eintreten wird: Was würde der Demokratischen Partei bevorstehen, sollte Bill Clinton verlieren?

Sollte sie tatsächlich verlieren, wäre das wohl der schlimmste Abschnitt im Prozeß ihres Niedergangs. Die Partei hat sich in meinen Augen in eine politisch wie moralisch bankrotte Institution verwandelt. Die Parteiführer und Spitzenkandidaten sind Demokraten, die soweit wie möglich auch Republikaner sein wollen. Ein gutes Beispiel ist der neueste Clinton- Wahlspot. Da heißt es sinngemäß: Wir sind die neuen Demokraten: Wir sind für die Todesstrafe, wir glauben daran, daß Wohlfahrtsempfänger lieber arbeiten sollen, daß aufgrund der Defizite eingespart werden muß... etc. Sie werden damit die Wahlen gewinnen, ohne während der Kampagne auch nur ein Wort über die schlimmsten Probleme des Landes zu verlieren: Armut, Hunger, Obdachlosigkeit und den Verfall der Städte. Aristoteles hat die in meinen Augen wunderbarste Definition von Politik formuliert: Demnach geht es um den Konflikt zwischen denen, die vom Schicksal begünstigt wurden, und denen, die dies nicht wurden. Was wir heute in der amerikanischen Politik sehen, sind zwei Parteien, die beide auf seiten der Begünstigten stehen.

Aber es ist doch wohl unbestreitbar, daß eine Clinton-Administration mehr politischen Spielraum für diesen Konflikt läßt als eine Bush-Administration!

Keine Frage. Die Demokraten stehen für das Recht der Frauen auf Abtreibung. Sie vertreten in vielen Punkten fortschrittlichere Positionen. Aber vergessen Sie eines nicht: Dieses Grundrecht auf Abtreibung ist 1973 von einem politisch konservativen Gerichtshof während einer politisch konservativen Administration geschaffen worden – zu einer Zeit, als die Frauenbewegung in den USA tatsächlich politische Schubkraft hatte und Druck ausüben konnte. Woraus man schließen darf, daß sehr viel entscheidender ist, wieviel gesellschaftlicher Druck mobilisiert werden kann. Weniger relevant ist, wer in politische Ämter gewählt wird. Ich will hier gar nicht behaupten, es gäbe zwischen den beiden großen Parteien keine Unterschiede. Der Punkt ist vielmehr, daß angesichts der immensen Probleme dieses Landes die Antworten der Demokraten völlig unangemessen ist. Sie haben das Mitte- Rechts-Vakuum besetzt, das die Republikaner durch ihren Rechtsruck hinterlassen haben.

Dieser Wahlkampf ist auch durch das Phänomen Ross Perot geprägt. Ist sein Aufstieg Ausdruck einer weitverbreiteten, aber vagen Frustration über das Zweiparteiensystem? Oder ist das der Startschuß für den Aufstieg einer oder mehrerer neuer Parteien?

Sein Aufstieg hat jedenfalls die Notwendigkeit einer dritten Partei demonstriert. Nun gibt es im Fall Ross Perot einen, sagen wir mal, außergewöhnlichen Faktor: Der Mann hat unendlich viel Geld; die meisten Initiativen zur Gründung einer dritten Partei waren und sind finanziell extrem schlecht ausgestattet. Aber Perot hat bewiesen, daß die Leute nach einer neuen Form der Politik förmlich gieren und diesen einstudierten und inszenierten Brei der etablierten Parteien nicht mehr ertragen. Die Hälfte der Wahlberechtigten in den USA nehmen ihr Wahlrecht gar nicht mehr wahr. Diese Leute sind nicht faul oder blöd oder schlechte Bürger. Das sind Leute, denen das politische System nichts mehr zu sagen und zu bieten hat.

Perot hat noch etwas bewirkt: Die Linke in den USA hat sich lange Zeit hinter dem Argument versteckt, daß es faktisch unmöglich ist, landesweit auf die Wahllisten zu kommen. Perot hat bewiesen, daß es geht. Es ist höchste Zeit für einen ernsthaften Versuch, dieses Zweiparteienmonopol zu brechen. Perots Versuch halte ich nicht für sehr ernsthaft.

Welche Initiativen für neue Parteien gibt es zur Zeit?

Es gibt einige, wobei die lokale und regionale Ebene da viel wichtiger ist als die Präsidentschaftswahlen. [Die Grüne Partei kandidiert in einigen Bundesstaaten; die „Campaign for a New Tomorrow“, eine in der Tradition der „Progressive Party“ stehende Bewegung, hat einen Präsidentschaftskandidaten, Ron Daniels, aufgestellt; die „21st Century Party“ ist das Produkt der US-Frauenbewegung, eine eigene Partei zu gründen, d.Red.] Das Problem ist: Im Unterschied zu europäischen Ländern gab und gibt es hier keine Klassenbasis für die Gründung von Parteien. Deshalb sind die Initiativen oft ideologisch diffus und enden schnell in Spaltungen. Diese Tendenz ist auch bei den Perot- Anhängern zu erkennen, die ja aus den gegensätzlichsten politischen und ideologischen Richtungen kommen.

Trauen Sie sich eine Prognose darüber zu, wie die Parteienlandschaft in vier Jahren aussieht?

Liebe Güte, das ist schwierig, hier irgendetwas vorherzusagen. Ich selbst habe zum Beispiel nie mit einer Bewegung wie der Perots gerechnet. Ich habe, wie fast alle, vor einem Jahr fest geglaubt, daß Bush die Wahlen wieder gewinnt. Ich kann nur eines prophezeien: In diesem Land herrschen strukturelle Probleme, an die sich niemand herantraut. Deshalb wird es in vier Jahren noch sehr viel mehr Menschen wirtschaftlich und sozial schlechter gehen als heute. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten: Es bildet sich eine fortschrittliche, linke Bewegung, oder das rechte, christlich-fundamentalistische Movement erhält sehr viel mehr Zulauf. Wenn ich mir das linke Spektrum allerdings so ansehe, halte ich letztere Option für sehr viel wahrscheinlicher. Interview: Andrea Böhm

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