Interview mit Stadtforscher Overmeyer: "Jugendliche sehen die Stadt als Beute"
Junge Menschen suchen sich Freiräume auch in einer von Aufwertung geprägten Stadt, sagt der Stadtforscher Klaus Overmeyer. Oft kollidiere das jedoch mit dem formalisierten Planungsrecht.
taz: Herr Overmeyer, mussten Sie als Jugendlicher um Freiräume kämpfen?
Klaus Overmeyer: Nein, ich bin auf dem Land, nahe der holländischen Grenze, groß geworden. Mit 12, 13 waren wir nachmittags immer beim Bauern, sind Trecker gefahren und haben schon mal ein ganzes Feld allein umgepflügt.
Heute leben Sie in Berlin und haben viel mit Stadtentwicklung, Zwischennutzung und Verdrängung zu tun. Haben denn die Jugendlichen hier genügend Freiraum?
Ins Kraftwerk Mitte in der Köpenicker Straße lädt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am heutigen Dienstag zur Fachtagung "Jugend macht Stadt! - Jugendliche als Akteure der Stadtentwicklung". VertreterInnen aus den Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen diskutieren, wie Jugendliche besser an Stadtentwicklung beteiligt werden können. Hierfür referiert etwa der Aachener Stadtentwicklungsforscher Klaus Selle über "Jugendliche Wünsche und planerische Realitäten".
Treffen werden die TeilnehmerInnen dabei auf Jugendliche aus Modellprojekten des Forschungsprogramms "Jugendliche im Stadtquartier". In dessen Rahmen untersucht das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung die Möglichkeiten einer "Jugendbeteiligungskultur", in der junge Menschen lebendige, attraktive Städte mitentwickeln. Ein solches Modellprojekt ist etwa der Mellowpark in Köpenick.
Noch bis zum 28. November ist im Kraftwerk Mitte die Ausstellung "Realstadt. Wünsche als Wirklichkeit" zu sehen, die den Umgang mit Stadt aus den Perspektiven aller beteiligten Akteure beleuchtet. Infos im Internet:
Jugendliche brauchen Freiräume in der Stadt, und sie suchen sie sich auch, das merke ich an meinem 15-jährigen Sohn. Direkt von den derzeitigen Aufwertungsprozessen in vielen Vierteln verdrängt werden Jugendliche nicht. Sie kommen mit 15, 16 auch ganz stark in eine Konsumphase rein und sehen die Stadt als Beute. Also ziehen sie durch die Stadt, zwischen H&M und Gleisdreieckbrache. Jugendliche sehen die Stadt als ein Feld, als ihr Territorium, das sie selbst frei erobern können.
Sie arbeiten mit dem Köpenicker Skate- und Jugendprojekt Mellowpark zusammen. Das hatte sich über zehn Jahre hinweg äußerst erfolgreich einen Freiraum erobert, auf dem Gelände eines alten Kabelwerks.
Die konnten das unbehelligt von bezirklichen, genehmigungsrechtlichen Auflagen machen, sie konnten den Ort ausprobieren. Darum ist es ihnen gelungen, ein Konglomerat aus ganz unterschiedlichen Nutzungen aufzubauen: Skatepark, eigene Rampenbaufirma, Siebdruckwerkstatt, Café, kleines Hostel und so weiter. Jugendliche changieren dort zwischen Freizeitformen, Jugendkulturen, unternehmerischen Aktivitäten und ehrenamtlichem oder politischem Engagement.
Das politische Engagement fruchtet: Vom alten Standort vertrieben, zieht der Mellowpark jetzt auf eine 70.000 Quadratmeter große Brache zwischen Wuhlheide und Spree.
Ja, aber das bedeutet auch eine doppelte Formalisierung für den Mellowpark: Einerseits muss man angesichts der Größe des Geländes professionelle Strukturen schaffen, etwa um den Vertrag für dieses Gelände überhaupt zu bekommen. Andererseits sind sie beim Mellowpark jetzt auf einmal gezwungen, sich auch planungsrechtlich zu positionieren und für die Nutzung, die sie auf dem neuen Gelände realisieren wollen, Baugenehmigungen einzuholen. Sie müssen sich also als Jugendverein mit Dingen auseinandersetzen, die normalerweise irgendwelche Projektentwickler oder Planer machen.
Bremst diese erzwungene Formalisierung Jugendliche aus?
Natürlich widerspricht die Arbeit von Jugendlichen der herkömmlichen Planungspraxis beziehungsweise kommt gar nicht darin vor. Da etabliert jemand auf einem Gelände wie dem des Mellowparks irgendwelche Stadtvillen oder Dienstleistungsquartiere, dafür macht dann das Amt einen Bebauungsplan, und der ist dann für die nächsten 100 Jahre festgeschrieben. Initiativen von Jugendlichen wie der Mellowpark zeichnet aus, dass sie extrem spontan, informell, ungeplant agieren. Dass das, was heute auf dem Gelände ist, morgen vielleicht gar nicht mehr gilt. Gerade in dieser dynamischen Entwicklungsweise liegt ein sehr großes Innovationspotenzial.
Wie könnte man diesen Widerspruch von behördlicher Seite her auflösen?
Wir müssen Lösungen finden, wo das Planungsrecht oder die Entwicklung der Stadt viel stärker dynamisiert wird und offene Räume für experimentelles Ausprobieren zulässt.
Muss also das Planungsrecht, das oft nur starr eine bestimmte Form der Nutzung kennt und erlaubt, flexibilisiert werden?
Es macht wenig Sinn, Gesetze zu ändern. Es kommt darauf an, wie man die bestehenden handhabt. Speziell beim Mellowpark würde es zum Beispiel Sinn machen, einen sogenannten vorhabenbezogenen Bebauungsplan anzuwenden. Der setzt bestimmte Parameter fest, könnte etwa das Gelände in einzelne Zonen aufteilen und so ein sehr breites Spektrum von unterschiedlichen Nutzungen zulassen. Und dann könnte dieser Plan, je nachdem wie der Jugendtreff sich entwickelt, sukzessive vertieft oder fortgeschrieben werden. Dazu bestehen rechtliche Möglichkeiten, die sollte man einfach suchen und ausschöpfen.
Etablierte Stadtentwicklung hat also noch zu viel Angst vor jugendlicher Spontanität?
Ja, das kann man sagen. Wir haben einmal einen zehntägigen Workshop mit Jugendlichen aus Ingolstadt gemacht in einem leer stehenden Gebäude in der dortigen Innenstadt. Die Jugendlichen haben konkrete Ideen für die Nutzung dieses Ortes entwickelt, er sollte eine öffentliche Zone sein, die ganz unterschiedlich bespielt werden kann: mal als Volxküche, mal als exterritoriale Spielstätte des Theaters oder als Hostel. Bei der Abschlussveranstaltung waren alle begeistert, es gab eigentlich schon einen Plan für die Betreibung des Gebäudes für ein weiteres halbes Jahr.
Was ist passiert?
Bei der Abschlussparty wurde eingebrochen und Equipment geklaut. Der Besitzer war so angefressen, dass er danach erst mal gar nichts mehr gemacht hat. Das Gebäude steht immer noch leer.
Blöd gelaufen.
Klar, viele Experimente scheitern. Zwar auf viel niedrigerem Niveau als bei einer herkömmlichen Investition, wo dann gleich 13.000 Quadratmeter Bürofläche leer stehen. Aber wenn man eine Verwaltung oder einen Eigentümer dazu bringen will, andere Pfade zu gehen, vielleicht Räume eher offen zu lassen und zu gucken, was sich da entwickelt und wie man mit dem dann umgehen kann, dann darf nichts schieflaufen. Sonst sind schnell diejenigen da, die sagen: Na ja, seht her, hat nicht geklappt. Und dann hören sie lieber ganz auf, als Erfahrungen zu machen und aus dem Scheitern zu lernen.
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