Interview mit Inge Deutschkron: "Keiner hat's geglaubt"
Vor 70 Jahren wurden die ersten Berliner Juden nach Osten deportiert. Die Überlebende Inge Deutschkron erzählt.
taz: Frau Deutschkron, können Sie sich an den Beginn der Deportationen am 18. Oktober 1941 erinnern?
Inge Deutschkron: Darum rede ich ja bei der Gedenkveranstaltung. Ich hab das ja miterlebt.
Sie waren auf dem Bahnhof?
Nein. Ich habe die Abholung miterlebt. Damals war ja nicht bekannt, was das war. Wie sich nachher rausstellte, hatten 1.000 Leute eine - wie wir das nannten - "Liste" bekommen, da mussten sie draufschreiben, was sie noch besitzen. Und keiner hat gewusst, wozu das ist. Und plötzlich, am 16. Oktober, hörte ich über Kanäle von der Jüdischen Gemeinde, dass am gleichen Abend die 1.000 Menschen, die diese Liste bekommen hatten, abgeholt wurden zu einer ersten Deportation. Ich hab das nicht geglaubt.
Kannten Sie Betroffene?
Aber ja. Bei uns in der Wohnung, wir wohnten ja alle schon sehr eng zusammen, wohnte eine Dame, etwa 65 Jahre alt, die hatte eine solche Liste erhalten. Ich sagte zu meiner Mutter: "Sollen wir ihr das sagen, dass sie vielleicht abgeholt wird?" Wir haben es dann nicht getan. Wir wussten ja nicht, ob das stimmt. Aber Punkt acht Uhr abends, Juden mussten ja um acht zu Hause sein, klingelte es und vor mir stand die Gestapo, zwei Kerle, und wollten zu dieser Dame, Clara Hohenstein. Ich wies ihnen den Weg zu ihrem Zimmer, die sagten: "Machen Sie sich fertig, machen Sie einen kleinen Koffer fertig, viel werden Sie ja nicht brauchen! Wir nehmen Sie mit." Die ganze Geschichte dauerte vielleicht zehn Minuten, dann kam sie zu uns, schon angezogen in ihrem besten Mantel, als wenn sie auf eine Party ging, eine kleine Reisetasche in der Hand, und sagte: "Die Herren nehmen mich mit, ich weiß nicht wohin, sie wissen das auch nicht genau. Aber ich melde mich, sobald ich kann." Was natürlich nie geschah.
Wie ging es weiter?
Inge Deutschkron 89, überlebte den Holocaust in Berlin in Verstecken mit ihrer Mutter. Ihre Autobiografie "Ich trug den gelben Stern" wurde vom Grips-Theater für die Bühne adaptiert. Bis heute hält sie Vorträge in Schulen und Museen wie der Blindenwerkstatt Otto Weidt in Mitte.
Am 18. Oktober 1941 verließ der erste von 60 Deportationszügen mit 1.089 jüdischen Männern, Frauen und Kinder den Bahnhof Grunewald. Dieser erste sogenannte Osttransport ging ins Ghetto Litzmannstadt, im heutigen Lodz. Bis Kriegsende fielen mehr als 55.000 der 160.000 Mitglieder der Berliner Jüdischen Gemeinde dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm zum Opfer.
Bei einer Veranstaltung am heutigen Dienstag, 14 Uhr, am Gleis 17 des Bahnhofs spricht neben dem Regierenden Bürgermeister die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind. Die Autorin Inge Deutschkron, die die Veranstaltung angeregt hat, wird die Gedenkrede halten. Berliner Schülerinnen und Schüler lesen Texte zum Thema, die Berliner Singakademie gestaltet die musikalische Umrahmung.
Am nächsten Tag war klar, was passiert war. 1.000 Leute waren provisorisch in der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße auf Stroh untergebracht - und am 18. ging der Transport ab.
Wohin? Wusste man das?
Wusste man nicht. Es war entsetzlich: Alle gingen zur Synagoge, wollten zu ihren Leuten, noch irgendwas sagen. Da kam dann einer von der jüdischen Gemeinde raus, die musste das ja alles für die Gestapo machen, und sage: "Es tut mir wahnsinnig leid, das ist unmöglich." - "Aber ein Lebewohl noch!" Doch da war nichts zu machen.
Man konnte nicht mehr miteinander sprechen?
Nein. Und das Schlimme war: Wir hörten plötzlich, die meisten die abgeholt wurden, waren alt und konnten nicht mehr arbeiten. Und wir waren irgendwie erleichtert, weil wir jung waren. Stellen Sie sich das mal vor! Wir schämten uns dabei. So ging das immer weiter, das war ja nur der erste Transport. Von da an ging mit gewisser Regelmäßigkeit ein Transport nach dem anderen.
Ab wann wussten Sie denn, was Deportation bedeutet?
Was es genau bedeutet, haben wir nie erfahren. Aber Andeutungen darüber haben wir aus dem englischen Radiosender bezogen. Das war im November 1942. Aber keiner hats geglaubt. Ich war eine von denen, die verbotenerweise bei Freunden den "Feindsender" hörte, und da wurde darauf angespielt, auf Massenerschießungen, Vergasungen und so. Und ich sagte zu meiner Mutter: "Ach nee, das ist doch Quatsch! Das kann doch nicht sein." Das war kaum zu verkraften, denn uns war klar, dass wir auch dran kommen werden. Bis jemand kam von unseren Freunden und sagte: "Ihr dürft nicht mitgehen, wir haben gehört, was sie da machen! Wir nehmen euch auf, wir verstecken euch." Und sie haben meine Mutter und mich zweieinhalb Jahre versteckt, mal hier mal da.
Sie wurden von verschiedenen Freunden versteckt?
Ja. Mal kam zum Beispiel eine Nachbarin und sagte: "Ach, Sie haben Besuch?" Dann mussten wir weg. Also wir haben viele Verstecke gehabt, ich glaube, es waren elf. Es war sehr schwer, auch für unsere Leute ein wahnsinniges Risiko. Das waren Helden, wissen Sie? Auch wenn die keiner bedacht hat in diesem herrlichen Adenauer-Staat. Uns zu ernähren, auch so Kleinigkeiten wie Aspirin, das konnten wir ja alles nicht kaufen - das mussten für uns alles die Freunde machen.
Was bedeutet das für Sie, wenn man an historischen Orten wie dem Bahnhof Grunewald Gedenkfeiern macht?
Das ist ziemlich unangenehm. Das ist mir auch beim Schreiben klar geworden. Es mir sehr schwer geworden, das Buch zu schreiben, weil immer, wenn man etwas über Geschichte schreiben will, muss man sie nochmal erleben.
Aber in Berlin gibt es so viele historische Ort. Wenn Sie da vorbeikommen, ist das für Sie jedes Mal schmerzhaft?
Was für mich besonders schmerzhaft ist, sind die Orte, wo Freunde oder Verwandte gewohnt haben. Ich habe in Spandau zum Beispiel meine Lieblingstante gehabt, da war ich auch dabei, wie sie abgeholt wurde. Oder eben Innsbrucker Straße, wo die erste Abholung war: Da gehe ich nicht vorbei, wenn ich es vermeiden kann. Das ist sehr schwierig. Zumal wir uns ja auch geschämt haben, dass wir uns verstecken und die anderen müssen gehen. Das ist eine Sache. Das andere ist, ich habe aus diesem Grund die Verpflichtung alles zu tun, das so etwas nie wieder passiert - und vor allem, dass es bekannt wird!
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