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Aus taz FUTURZWEI

Interview mit Cem Özdemir Bei Nutztieren gendere ich immer

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir über seine Kindheit auf dem Land, die Stadtsicht der Grünen und seinen Versuch, eine neue Landwirtschafts- und Ernährungspolitik zu machen.

»Ich habe für mich noch nicht entschieden, wo ich mal beigesetzt werden möchte«: Cem Özdemir, sehr lebendig, im Februar 2022 in seinem Ministerium in Berlin Foto: Paula Winkler

taz FUTURZWEI: Lieber Herr Minister Özdemir, Sie kommen vom schwäbischen Land, jetzt leben Sie in der Weltmetropole Berlin-Kreuzberg. Ist es vorstellbar, dass Sie im Alter zurück aufs Land gehen?

Cem Özdemir

Der Mann: Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung.

Mit 40 Prozent Erststimmen bei der Bundestagswahl 2021 erfolgreichster Politiker aller Parteien in Baden-Württemberg und deutschlandweit erfolgreichster Grüner Direktmandatgewinner.

Von 2008 bis 2018 Koparteivorsitzender der Grünen.

Geboren 21. Dezember 1965 in Bad Urach, Baden-Württemberg, als Sohn türkischer Gastarbeiter. Vater kam aus Anatolien und arbeitete in einer Feuerlöscherfabrik, Mutter kam aus Istanbul und war selbstständige Änderungsschneiderin.

Verheiratet mit Pia Maria Castro, zwei Kinder. Lebt in Berlin-Kreuzberg.

Cem Özdemir: Ich weiß es nicht. Meine Eltern sind beide in meinem Geburtsort Bad Urach beerdigt worden. Meine Mutter erst jüngst letzten August. Ich habe das für mich noch nicht entschieden, wo ich mal beigesetzt werden möchte. Aber ich würde jetzt nicht ausschließen, dass das am Ende auch der Ort wird, wo ich geboren bin und auch sehr schöne Jahre meines Lebens verbracht habe.

Sie sind aber inzwischen schon der Metropolentyp?

Ich bringe die ganze Bandbreite mit. Mein Wahlkreis, den ich mit knapp 40 Prozent gewonnen habe, ist Stuttgart, eine Großstadt. Geboren und aufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt, umgeben von Wald und Feldern, mitten auf der Schwäbischen Alb. Insofern kenne ich beide Seiten ganz gut. Und beide Seiten haben ihre Herausforderungen. Jetzt bin ich beruflich in Berlin, aber ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass ich mich immer wahnsinnig freue, wenn ich in Stuttgart am Hauptbahnhof aussteige.

Wirklich?

Nicht so sehr über den Anblick der Baustelle, darauf kann ich verzichten. Aber auf das, was alles hinter dem Bahnhof kommt.

Als Niedersachse und erklärter Norddeutscher muss ich hier gleich intervenieren, bevor sich die schwäbische Heimatverbundenheit zu sehr Bahn bricht.

Warum? Das Schöne an Heimatverbundenheit, hat der österreichische Bundespräsident mal gesagt: Man nimmt niemandem etwas weg, wenn man sich über den Ort freut, wo man aufgewachsen ist, eine Zugehörigkeit empfindet und vielleicht auch Schmerz, wenn man sieht, dass etwas kaputtgeht. Außerdem kann man dieses Gefühl auch erwerben, wenn man zugezogen ist. Und sich darüber freuen, wenn auch jemand anderes davon schwärmt. Das unterscheidet Heimatverbundenheit ja vom Nationalismus.

Eine Kleinstadt – wie Ihre Heimat Bad Urach – ist nochmal etwas anderes als flaches Land?

Ja. Für meine Mitschüler und Mitschülerinnen von der Schwäbischen Alb war Bad Urach schon ein Sprung vom Dorf in die Kleinstadt mit 11.000 Einwohnern, in der es immerhin in meiner Kindheit noch ein Kino gab. Gott sei Dank gibt es seit einigen Jahren wieder eines. Es gab auch einen Schwof einmal die Woche, wo wir im Jugendhaus tanzen gingen. Das gab es natürlich alles auf dem Dorf nicht. Für mich wiederum war es eine Sensation, wenn wir per Anhalter nach Stuttgart trampten und dort die Königsstraße rauf und runter sind, Plattenläden en masse. In Bad Urach gab es einen Plattenladen, der hatte eine doch sehr eingeschränkte Auswahl und war teurer.

Klingt insgesamt etwas romantisch.

Es war natürlich nicht immer so romantisch. Es kam die Zeit, wo das Kino zugemacht hat, die Eisenbahnverbindung eingestellt wurde und man das kulturelle Angebot als nicht mehr ausreichend für einen selbst empfand. Zumal mit einem migrantischen Hintergrund, wo du eben nicht reinwächst in Dinge wie die Freiwillige Feuerwehr, den Posaunenchor, das evangelische Jugendwerk oder was es sonst so gab. Damals konnte es mir nicht schnell genug gehen, wegzukommen.

»Wenn ich laut Musik gehört habe, klingelte irgendwann das Telefon, und die Nachbarn riefen an, weil sie halt hören mussten, wie ich bei Led Zeppelin mitsang. Da war ich dann doch ganz froh, das loszuwerden.«

Cem Özdemir

Wie war es, als Sie vom Land weg waren?

Für mich war es befreiend, rauszukommen. Was meine Mutter immer als etwas Schönes empfunden hat, die Nachbarschaft, das empfand ich eine Zeit lang auch als Enge. Wenn ich laut Musik gehört habe, klingelte irgendwann das Telefon, und die Nachbarn riefen an, weil sie halt hören mussten, wie ich bei Led Zeppelin mitsang. Da war ich dann doch ganz froh, das loszuwerden.

Und heute?

Im Alter ertappe ich mich dabei, dass ich fast ein bisschen so rede, wie meine Eltern mit mir geredet haben. Ich schwärme dann meinen Kindern vor, was das für einen Unterschied macht, wenn du in Bad Urach in zehn Minuten im Wald stehst und nicht, wie in Berlin, ewig rumfährst. Und die Berge muss man sich hier mitdenken.

Also doch zurück aufs Land?

Mein Blick ist da sicher romantisierend. Aber ich sehe natürlich auch, wie dramatisch der Strukturwandel zugeschlagen hat. Die Eisenbahn fährt zum Glück wieder, wird gerade elektrifiziert, und vom Stunden- auf den Halbstundentakt verbessert, das ist eine Erfolgsgeschichte, zu der ich ein wenig beitragen konnte. Aber meine Freunde von damals – das waren Bäckerskinder, Metzgerskinder, anfangs gab es sogar noch einen Sattlerbetrieb –, von denen führt heute praktisch niemand noch das Geschäft seiner Eltern. Die inhabergeführten Geschäfte der Innenstadt von Bad Urach, mit denen ich aufgewachsen bin, gibt es nicht mehr. Die blieben alle auf der Strecke gegen eine Konkurrenz, die man sich selbst künstlich geschaffen hat, indem man damals dem Zeitgeist folgend auf der grünen Wiese die Discounter und so weiter hingestellt hat.

Was ist da die politische Perspektive?

Die gute alte Zeit kommt nicht wieder. Da darf man sich keine Illusionen machen. Das hat was damit zu tun, dass die Orte, in denen wir arbeiten und die Orte, in denen wir leben, sich auch durch eine falsche Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte auseinanderentwickelt haben. Das zu korrigieren, wird nicht vollständig gehen.

Wir dachten, die Grünen schaffen gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land?

Das wollen wir auch. Ich ärgere mich, wenn Leute aus den Städten die Konzepte fürs Land entwickeln. Da wird mitunter ein defizitäres Bild vom Land gezeichnet: Das Ideal ist die Stadt, und man versucht, das aufs Land zu übertragen. Das erklärt vielleicht auch ein bisschen die Probleme, die wir bei der letzten Bundestagswahl hatten: mit fulminanten Wahlergebnissen in den Großstädten, aber halt nicht ganz so erfolgreich in den ländlichen Regionen.

»Nicht ganz so erfolgreich« ist ein schöner Euphemismus.

»Ich ärgere mich, wenn Leute aus den Städten die Konzepte fürs Land entwickeln«: VfB-Stuttgart-Oberfan Özdemir Foto: Paula Winkler

Es geht darum, dass einem die Leute zuhören. Und, dass wir den Leuten zuhören. Auf dem Land gibt es andere Probleme als in der Stadt, die muss man kennen. Es funktioniert nicht, wenn man als Städter den Leuten auf dem Land zum Beispiel erklärt: »Ihr braucht das Auto gar nicht.« Dann werden die einem nicht zuhören. Denn das ist einfach an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen auf dem Land vorbei.

Wann hören sie zu?

Sie hören mir zu, wenn ich ein Angebot machen kann, dass vielleicht das Zweit- oder Drittauto nicht mehr notwendig ist und es gute Alternativen gibt. Der Ausbau des ÖPNV ist wichtig, aber man muss an der Lebenswirklichkeit der Leute andocken. Sonst steigen sie aus und denken: Der will uns erklären, wie es bei uns sein sollte, aber hat keine Ahnung, wie es bei uns ist. Die Pandemie, so schrecklich sie ist, hat uns da vielleicht auch ganz anders blicken lassen auf das Thema Arbeit, Pendeln und die Frage der Notwendigkeit einer Vollpräsenz am Arbeitsort – Stichwort: Homeoffice.

Kann durch die neue Homeoffice-Möglichkeit eine Aufwertung des Dorfes entstehen, vielleicht sogar Co-Working-Spaces im Dorfkern, damit nicht jeder allein vorm Bildschirm sitzen muss. Und in der Folge eröffnet daneben ein Café? Da kommen doch Sachen jenseits jeder Romantik in Bewegung.

Da gehört natürlich dazu, dass wir endlich auch eine vernünftige Digitalisierung auf dem Land haben. Da hat diese Koalition sich ja einiges vorgenommen nach den dramatischen Versäumnissen der letzten Jahre. Wenn ich als Architekt auf dem Dorf arbeite, was sich ja perfekt anbietet, dann muss ich eben auch meine Zeichnungen hochladen können. Und nicht erst mit dem Auto in die Stadt fahren müssen. Das ist ja absurd, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt das bis heute nicht vernünftig hingekriegt hat.

Gutes Internet ist das eine, gute oder überhaupt Kitas und Schulen sind nochmal was ganz anderes.

Das ist das Zweite, das man übersieht, neben dem einen Defizit, dass immer Städter die Planung für die Dörfer über die Köpfe der Leute hinweg machen. Die Gender-Dimension. Wenn du als junge Frau Kinder haben und Karriere machen willst ...

... wenn beide berufstätig sein wollen oder müssen ...

... und es halt keine Kita, keine Ganztagsschule gibt, dann hast du keine Chance. Dann musst du in die Stadt. Wir müssen Angebote machen, damit junge Frauen eine Zukunft auf dem Land haben und sich nicht für das eine oder das andere entscheiden müssen. Dahinter steht ein weiteres Problem: Wer saß traditionell im Gemeinderat und in den Vereinsvorständen? Es waren alles Männer. Das ändert sich jetzt langsam, Gott sei Dank, denn da ist ein weiblicher Blick auf Mobilität, auf Strukturpolitik, auf die Frage Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die Zukunft des Dorfes und des ländlichen Raumes ganz entscheidend. Dafür kann etwa die Möglichkeit des Arbeitens im Homeoffice – übrigens auch für den Mann – helfen.

Grundsätzlich gefragt: Ist das ein grüner Illusionismus, dieses Dogma von der »Gleichheit der Lebensverhältnisse«? Der Staat hat begrenzte Ressourcen, und es könnte zukunftspolitisch sinnvoller sein, sie dorthin zu stecken, wo die jungen Frauen hingehen. Und nicht dorthin, wo sie weggegangen sind und die Bevölkerung dadurch logischerweise ausstirbt. Warum lachen Sie jetzt?

Ich habe ja jetzt auch nicht davon gesprochen, dass ich in jedes Dorf ein Ballett oder ein Theater reinstelle. Es ist schon schwer genug, dass wir die in den Großstädten weiterhin finanzieren. Die Häuser müssen sich auch gerade neu erfinden, wie sie sich einer veränderten demografischen Realität öffnen und andere Bevölkerungsschichten mitnehmen. Man kann nicht alles, was man in der Stadt hat, auf dem Dorf haben. Aber eine gute Grundversorgung muss gewährleistet sein. Zur Wahrheit gehört auch, dass es auf dem Land Vorteile gibt, die es in der Stadt nicht gibt.

Hilft eine Aufsteiger-Biografie für gesamtgesellschaftliche Politik, weil man mehr Facetten der Gesellschaft erlebt hat und Perspektiven kennt? Also um auf Ihre Schulbiografie zurückzukommen: Wir nehmen an, dass Sie mehr von einer Realschule verstehen als die allermeisten Bundestagskollegen.

Ich verstehe sogar etwas von der Hauptschule, weil ich dort in der 5. Klasse war. Ich verstehe auch etwas von schlechten Zensuren. Ich verstehe allerdings auch, wie es ist, wenn du sozial ausgegrenzt bist und aus einer bildungsfernen Familie kommst. Dann hast du ja das Ideal des Aufstiegs, des »hart Arbeitens« und tust dich mit manchen Debatten schwer, die eher in gebildeten Kreisen geführt werden. Stichwort Grundeinkommen. Das war nie meine Debatte.

Warum nicht?

Wenn ich das jetzt übertrage auf mein Elternhaus: Was hätte meinen Eltern, die beide arbeiten mussten, wirklich geholfen? Ein Kindergarten, wo du nicht um zwölf Uhr das Kind wieder abholen und dann mit Mittagessen versorgen musst. Eine Schule, die halt nicht nach der fünften oder sechsten Stunde endet, sondern eine Ganztagsschule, in der du sogar auch ein gesundes Mittagessen bekommst.

Das hatten Sie alles nicht?

Mein Mittagessen bestand viele Jahre aus Pommes oder einer Currywurst. Das war gerade das, was ich mir leisten konnte von dem Geld, das mir meine Mutter gab. Wenn man also etwas in der Gesellschaft verändern möchte, dann die Strukturen, sodass auch diejenigen etwas werden können, früher sagte man: bei denen zu Hause nicht der Brockhaus steht. Ob das deutsch oder migrantisch ist, das ist ja erst mal nicht die entscheidende Frage.

Hilft denn nun eine Aufsteiger-Biografie in der Politik?

Ich glaube, dass das den Blick und die politische Sprache prägt. Und dazu führt, dass man an Lebenswelten anderer Menschen besser andocken kann. Man weiß, wie das ist, wenn beide Eltern berufstätig sind und das Geld trotzdem nicht reicht, weil du auch noch Verwandtschaft in der Türkei hast. Oder du irgendwie für das Haus ein Darlehen abzahlen musst, das du zur Hochzinsphase abgeschlossen hast. Oder du bist überversichert, zahlst überall immer die höchsten Tarife, weil du dich eben nicht auskennst. Während die Mittel- und Oberschichtsleute immer die besten Tarife haben.

Als Sie zum Einstieg als Landwirtschafts- und Ernährungsminister die »Ramschpreise« für Industriefleisch kritisierten, empörte sich eine ungewöhnliche Allianz, Herr Özdemir.

»Mein Mittagessen bestand viele Jahre aus Pommes oder einer Currywurst. Das war gerade das, was ich mir leisten konnte von dem Geld, das mir meine Mutter gab. Wenn man also etwas in der Gesellschaft verändern möchte, dann die Strukturen.«

Cem Özdemir

Ja, da gibt es jetzt eine ungeahnte Koalition aus CDU und Linkspartei. Und eine große Boulevardzeitung in Deutschland entdeckte die soziale Gerechtigkeit in Ramschpreisen beim Fleisch. Ich glaube nicht, dass deren Vorstandsetage selbst essen würde, was sie Teilen ihrer Leserschaft wünschen.

Immer wenn ungerechte Strukturen sozialökologisch werden sollen, wird der sogenannte kleine Mann nach vorn geschoben?

Ich finde es schon spannend, wenn Leute das tun, die ihren Lebtag damit verbracht haben, die bestehenden Strukturen zu erhalten, die ja zutiefst ungerecht und unmoralisch sind – wenn man an bestimmte Teile der Tierhaltung denkt oder an die Arbeitsbedingungen der Leute in der Fleischindustrie. Und zu diesen Strukturen gehören auch oft ernährungsbedingte Krankheiten bei Menschen, die nicht so viel Geld in der Tasche haben. Und dann sagt man: Aber dafür habt ihr billiges Schweinefleisch? Herzlichen Dank, kann ich da nur sagen. Ich will die Strukturen ändern, das ist emanzipatorische Politik. Und nicht, dass man die einen Benachteiligten gegen die anderen ausspielt.

Ihre CDU-Vorgängerin Julia Klöckner hat beim Amtsantritt auch gegen billige Industriefleischpreise gewettert und Veränderung angekündigt, was bekanntlich ausgeblieben ist. Mag auch an ihr gelegen haben, aber die Beharrungsstrukturen sind schon sehr resistent. Warum sollten Sie die Ökolandwirtschaft durchsetzen? Und dann wollen Sie nicht der grüne Minister sein, sondern »Landwirtschaftsminister aller Bäuerinnen und Bauern«, von denen mindestens 70 Prozent auch 2030 noch konventionelle Landwirtschaft machen werden. Das ist offenbar eine Herkules-Aufgabe.

Ja, so sehe ich das auch. Ich will jetzt gar nicht über die Arbeit meiner Vorgänger urteilen, man tritt nicht nach. Aber ich habe im Vergleich zu ihnen auch ein paar Vorteile. Der zentrale Unterschied ist eine Koalitionsvereinbarung, in der etwa die Haltungskennzeichnung, die Ernährungsstrategie oder die 30 Prozent Ökolandbau bis 2030 drinstehen. Damit habe ich eine Arbeitsgrundlage.

Was ist der zweite Vorteil?

Es hat sich in der Gesellschaft etwas verändert. Nehmen Sie die Zukunftskommission Landwirtschaft, die sich zusammengesetzt hat aus Leuten, die sich sonst wahrscheinlich nicht mal »Guten Tag« gesagt haben. Da saß etwa der Bauernverband drin, die Umweltseite, der Verbraucherschutz, der Handel: Alles Stakeholder, die wir brauchen, um die Dinge voranzubringen. Und die sind alle aus ihren Schützengräben rausgekommen. Die Ökoseite hat gesagt: Wir wollen immer noch Klima-, Arten- und Tierschutz. Aber wir wollen das auch so, dass die Bauern davon leben können, denn wir haben verstanden: Die Ställe umbauen, weniger Tiere, mehr Platz für die Tiere – das heißt ja erst mal, weniger Ertrag. Also braucht es dafür ein vernünftiges Auskommen, sonst werden sie es nicht machen.

Und die Bauern?

Die Bauernschaft sagt: Uns ist klar, wenn wir nicht den Pestizideinsatz runterfahren und den Teil drastisch reduzieren, den die Landwirtschaft zur Klimakrise leistet, dann kriegen wir ein Akzeptanzproblem – und dann fahren wir an die Wand. Es verändert sich auch gerade etwas in der Gesellschaft. Die Leute achten mehr auf Bio und Regionalität. Es gibt mehr Vegetarier und Veganer. Und auch insgesamt essen die Deutschen weniger Fleisch.

Das wird immer gesagt, aber faktisch liegt der Fleischverzehr pro Deutschem im Jahr bei 57 Kilo und sinkt nur geringfügig.

»Wenn man als Städter den Leuten auf dem Land erklärt, dass sie das Auto nicht brauchen, dann hören die nicht zu«: Cem Özdemir, einziger Minister, der zu seiner Vereidigung radelte Foto: Paula Winkler

2010 waren es noch über 62 Kilo pro Person und Jahr. Wir sind gut beraten, uns diesem Megatrend nicht entgegenzustellen, sondern ihn zu gestalten. Dazu gehört, dass die Bäuerinnen und Bauern ein vernünftiges Einkommen haben. Und da geht es eben um Strukturfragen. Es gibt eine Zahl, die schockiert mich wirklich. Von dem einen Euro, den man für Schweinefleisch ausgibt, kommen höchstens 21 Cent beim Hersteller an – und der soll davon seine Familie finanzieren, seine Steuern zahlen und künftig auch noch den Stall umbauen. Man braucht sich dann nicht wundern, dass das nicht funktioniert. Also muss das System vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Die Frage ist doch, die sich auch aus der medialen Aufbereitung Ihres Ramschpreis-Vorstoßes ergibt: Kann man überhaupt eine inhaltliche Diskussion darüber führen, dass manche Lebensmittel teurer werden können und müssen?

Man muss die Diskussion offensiv führen, welchen Stellenwert Essen hat, weil ich die öffentliche Unterstützung brauche. Ich warne davor, soziale Gerechtigkeit immer nur am billigen Schweineschnitzel festzumachen. Natürlich muss auch Landwirtschaft sozial sein. Aber sie ersetzt doch nicht die Sozialpolitik, die meine Koalition sich auf die Fahnen geschrieben hat. Wir erhöhen zum Beispiel den Mindestlohn, und der trägt dazu bei, dass sich auch Menschen mit geringem Einkommen die hochwertigen Produkte unserer Landwirtinnen und Landwirte leisten können. Wenn eben nur 21 Cent beim Schweinehalter ankommen, dann landet der Rest woanders – und dort wird man nicht fröhlich etwas abgeben, nur weil der Özdemir schön Schwäbisch schwätzt. Da wird es massive Widerstände geben. Aber ich bin schwäbisch sozialisiert und weiß, wie man damit umgeht.

Hier wollen Sie den Klassenkampf?

Greenpeace hat eine Studie gemacht: 85 Prozent der Bevölkerung sind bereit, mehr auszugeben, wenn das zu mehr Tierschutz führt, zu besseren Haltungsformen und zu mehr Arten- und Klimaschutz. Aber die Leute wollen es erklärt haben. Also werden wir die Haltungskennzeichnungspflicht jetzt umsetzen. Und natürlich muss man die Debatte auch mit der Frage verknüpfen, was die Alternative dazu ist?

Die bewährte bundesrepublikanische Methode lautet: Augen zu und weiter so.

Das Fortsetzen des bestehenden Systems produziert nur Verlierer. Die Bauernschaft haut es aus der Kurve. Nur einige Große werden das überleben. Wir würden dramatische Kosten haben durch den Artenrückgang, die Klimakrise und die Externalisierung von Kostenmargen in die Dritte Welt, die Umwelt und in die zukünftige Welt unserer Kinder. Die Alternativen sind eben nicht »es bleibt, wie es ist« oder »wir zahlen etwas mehr«. Sondern die realen Alternativen sind: entweder Volldampf Richtung Arten- und Klimakrise oder wir versuchen gemeinsam aus diesem Hamsterrad rauszukommen – mit den Partnern in Europa und hoffentlich auch global, da bemühe ich mich ja auch.

Im Koalitionsvertrag steht auch ein Glyphosatverbot bis 2023. Kommt das wirklich?

Wir arbeiten dran.

Die traditionell produzierenden Landwirte, die auch 2030 mindestens noch 70 Prozent ausmachen, sind ja Leute, die häufig das Gefühl haben, von den Grünen als Feinde betrachtet zu werden. Gleichzeitig sind sie selbst oft die ärmsten Schweine, selbstmordgefährdet, am Ende ihrer Kräfte, ratlos, wie es weitergehen soll. Ist ihre Lage so schlecht, dass sie Ihren Weg als letzte Hoffnung mitzugehen bereit sind oder so schlecht, dass gar nichts mehr geht?

»Das ist eine schlimme Situation. Viele Bäuerinnen und Bauern überlegen sich aufzuhören. Sie sind diejenigen, wo der Frust abgeladen wird. Sie sind Gefangene des Systems, das die Politik jahrelang mit veranstaltet hat.«

Cem Özdemir

Das ist eine schlimme Situation. Viele Bäuerinnen und Bauern überlegen sich aufzuhören oder, ob sie ihren eigenen Kindern ernsthaft zumuten können, ihre Hofnachfolge anzutreten. Und das hat eben nicht nur mit fehlender Wertschöpfung, sondern auch mit fehlender Wertschätzung zu tun. Viele Bäuerinnen und Bauern sehen sich am Ende der Kette. Sie sind diejenigen, wo der Frust abgeladen wird. Nach dem Motto: Ihr vergiftet das Wasser, ihr quält die Tiere und so weiter.

Wie sehen Sie das?

Sie sind Gefangene des Systems, das ich beschrieben habe. Das Prinzip »wachse oder weiche« hat die Politik jahrelang munter mitveranstaltet. Ich nenne Ihnen mal eine Zahl, an der man sieht, dass der Druck im Kessel immens ist. Von 2010 zu 2020 hat sich die Zahl der schweinehaltenden Betriebe von 60.000 auf 32.000 fast halbiert.

Da freut sich der Grüne?

Weit gefehlt, denn die Zahl der Schweine ist in dem Zeitraum nur von 27,5 Millionen auf 26,3 Millionen gesunken. Die Richtung ist: Weniger Betriebe haben mehr. Und das führt zu teils unhaltbaren Zuständen im Stall, zu starken Boden- und Luftbelastungen in manchen Regionen. Das umzukehren ist mittlerweile genauso im Interesse der Bauernschaft wie des Umwelt- und Verbraucherschutzes. Und eigentlich muss es auch im Interesse des Handels sein. Jetzt gilt es, diesen Konsens zu erhalten, der in der Zukunftskommission Landwirtschaft erzielt wurde, und damit zeitnah bei der Haltungskennzeichnung einen Einstieg zu schaffen und unsere Bauern bei besseren Haltungsformen zu unterstützen. Sonst werden bald alle wieder so ein bisschen wie früher reden. Das darf nicht passieren.

Eine wichtige Frage für die grüne Funktionärsklasse hätten wir fast vergessen: Wenn Sie in Ställen sind, gendern Sie dann?

Unbedingt.

Sie lachen?

Gerade bei den Nutztieren gendere ich immer.

Die Fragen stellten PETER UNFRIED und HARALD WELZER. Das Gespräch ist zuerst in der März-Ausgabe unseres Magazins taz FUTURWEI erschienen.

Dieser Beitrag ist im März 2022 in taz FUTURZWEI N°20 erschienen.