■ Ingrid Stahmer: Schlagworte helfen nicht
„Frau Stahmer, wo bleiben Ihre Visionen?“ bin ich in letzter Zeit häufig gefragt worden. Und: „Sie müssen raus aus der Sozialecke und den großen Wurf für die ganze Stadt wagen“, schallt es mir von durchaus wohlmeinenden Menschen entgegen.
Wenn mit Visionen solche Schlagworte gemeint sind, die Illusionen erzeugen oder gar neue Ideologien, wenn die Reduktion auf einfache Weltbilder heimatlos gewordener Parteianhänger jedweder Couleur gemeint ist, dann möchte ich auch keine haben. Da bin ich eher Pragmatikerin und halte es in diesem Punkt mit Karl Marx. Es kommt nicht darauf an, die Welt neu zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Ohne Handlungsmaxime, ohne Ideen von einer Stadt und vom Zusammenleben in der Stadt kann man allerdings auch nicht pragmatisch handeln und etwas in Bewegung setzen. In diesem Sinne habe ich Visionen: Berlin muß von vornherein negative Entwicklungen vermeiden, wie sie in anderen Metropolen stattgefunden haben. Die Stadt sollte lebenswert für ihre Bewohner und attraktiv für Besucher sein. Anziehend für Touristen und Investoren ist sie nur, wenn die Berliner selber zufrieden sind mit ihrer Lebenssituation und ihre Anziehungskraft selber spüren.
Soziale Stadtentwicklung
Dazu bedarf es einer sozialen Stadtentwicklung. Dabei höre ich schon das Raunen der geneigten Leserschaft: Da ist sie wieder, die Sozialsenatorin, die überall möglichst viele soziale Einrichtungen schaffen will. Ich verstehe unter sozialer Stadtentwicklung aber weit mehr: die Gestaltung von Stadtraum als Lebensraum der Menschen, was mehr bedeutet als die Summe aus Wohnhaus, Konsumangebot und Verkehrstrasse. Der Stadtraum muß als Begegnungs- und Gestaltungsraum aller Bevölkerungsgruppen wieder erlebbar werden.
Das ist leicht gesagt, impliziert aber Veränderungen auf fast allen Politikfeldern. Beispielsweise muß Berlin bei allen Anstrengungen zur Eigentumsförderung immer auch eine Mieterstadt bleiben. Beim Wohnungsbau muß es zentrale politische Aufgabe bleiben, erschwinglichen Wohnraum zu erstellen. Städtischer Grund und Boden muß dazu mehr herangezogen werden. Die Vertreibung der Mieter aus der Innenstadt als Folge von Zweckentfremdung und hohen Preisen hat unter anderem verheerende Auswirkungen auf die Verkehrspolitik. Der tägliche Ansturm aus den Außenbezirken in die Innenstadt produziert notgedrungen ein Verkehrschaos.
Ich wünsche mir eine Stadt, die ein Verkehrskonzept hat, das Mobilität garantiert, ohne daß wir in Abgasen ersticken. Verkehrschaos, nicht ausreichende öffentliche Verkehrsmittel, fehlende Verkehrsanbindungen zum Umland sind wiederum schlecht für Investoren. Berlin und Brandenburg müssen sich hier zusammentun und sich als gemeinsamen Wirtschaftsraum und gemeinsames Feld der Arbeitsmarktpolitik betrachten.
Berlin muß industrielle Arbeitsplätze in der Region Berlin-Brandenburg schaffen und erhalten. Der Industriestandort Berlin ist auch ein Garant dafür, daß unterschiedliche soziale Schichten hier wohnen. Die einseitige Konzentration auf die Dienstleistungsmetropole birgt dagegen die Gefahr einer Polarisierung zwischen „sehr gut“ und „sehr schlecht“ verdienenden Menschen. Im übrigen ist auch eine Dienstleistungsmetropole an industrielle Abnehmer gebunden. Ich plädiere hier keinesfalls nur für ein Berlin der „Kieze“, sondern für ein urbanes Berlin. Eine Großstadt muß kein Moloch sein. Die Metropole bietet auch ungeheuere Chancen zum Kennenlernen, zur Auseinandersetzung. Berlin hat hier seinen Bewohnern und seinen Besuchern etwas Einmaliges zu bieten: Zwei lange Zeit getrennte Stadthälften sind dabei, zusammenzuwachsen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen dabei, daß es nicht reicht, nur die materiellen Lebensverhältnisse anzugleichen. Was das betrifft, kann der Senat mit einer beträchtlichen Erfolgsbilanz aufwarten. Diese Angleichung ist zwar notwendig, aber nicht ausreichend.
Die Stadt muß vielmehr zu einem Gemeinwesen werden. Alle Berlinerinnen und Berliner müssen beteiligt werden an der Gestaltung der Stadt und mehr Gelegenheiten haben, ihre Lebenserfahrungen einzubringen. Ich halte nichts davon, daß Politiker vorgeben, was in der Stadtplanung passieren soll. Ich halte es vielmehr für sinnvoll, gesammelten Sachverstand und die Bürger und Bürgerinnen an den Entscheidungen darüber, wie ihre Stadt aussehen soll, zu beteiligen.
Das Kulturangebot der Hauptstadt muß so attraktiv sein, daß es Menschen aus Ost und West anzieht. Mit der Kürzung der finanziellen Mittel schadet sich die Bundesregierung letztendlich selbst, wenn sie ihre Hauptstadt nicht so ausstattet, daß sie als Hauptstadt im Herzen Europas ihre ganz besondere Rolle auch wahrnehmen kann.
Diese Stadt braucht aktive und motivierte Menschen. Dafür gilt es, die Voraussetzungen zu schaffen, indem den vielen unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen Rechnung getragen wird. Die Wohnungs-, Arbeitsmarkt-, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik muß sich daran orientieren, Gemeinsinn, Wohlbefinden und Teilhabe am Gemeinwesen zu befördern.
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