■ In München tagte der Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen: Problemstau verdrängt
Euphorie auf Abruf, die auf den Punkt getrimmte Jetzt-geht's-los-Stimmung ist keine Sache der Grünen. Erfolgswille und Parteipsyche sind nicht derart verkoppelt, daß auch noch die ungünstigeren Umstände zum Material „für den großen Schub nach vorne“ geraten. Das unterscheidet die Bündnisgrünen von ihrem Koalitionspartner in spe. Das macht sie, in Zeiten der entschlossen inszenierten Aufbruchstimmung, eher sympathisch.
Dabei hat es dem kleinen Parteitag in München an ungünstigen Umständen nicht gefehlt. Als hätten die beiden schweren Wahlniederlagen in Sachsen und Brandenburg nicht schon gereicht, die Partei zwei Wochen vor der Bayern- und fünf Wochen vor der Bundestagswahl aus dem Prognosehimmel zu holen, ließ die kurze, aber heftige Nachbereitung auch gleich noch erahnen, wie es um die oft beschworene, harmonische Fusion aus Ost und West in Wirklichkeit bestellt ist. Die Wahlniederlagen haben deutlich gemacht, wie wenig es für die Partei in den neuen Ländern zu gewinnen gibt, die wechselseitigen Schuldzuweisungen danach haben den angestrengt gepflegten Parteimythos gelungener Ost-West-Gemeinschaft entschleiert.
Viel Stoff für Debatten – die auf dem Länderrat allesamt im Keim erstickt wurden. Daß die von Konrad Weiß im Vorfeld der Veranstaltung angedachte „Spaltung“ der Partei ein eher absurdes Szenario darstellt, war allen Beobachtern klar; doch daß es der Veranstaltungsregie gelang, das bündnisgrüne Dilemma im Osten und die Ost-West-Verwerfungen in der Parteispitze einfach von der Tagesordnung zu streichen, war des Guten zuviel. Je bemühter im Saal alle Konflikte dementiert wurden, desto üppiger wurde draußen konterkariert. So gelang es in München weder, den Ost-West-Streit „deutlich beizulegen“, wie das offizielle Resümee suggeriert, noch wurde der Konflikt um das künftige Verhältnis der Bündnisgrünen zur PDS „von vornherein verhindert“. Daß der Magdeburger Koalitionsstratege Hans Jochen Tschiche pünktlich zum Länderrat über künftige Listenverbindungen mit der PDS spekuliert und bei manchen PDS-Politikern mehr Gemeinsamkeiten entdeckt als bei den eigenen Parteifreunden, läßt sich jedenfalls kaum mit dem Dilettantismus eines Einzelgängers erklären. Tschiche formuliert lediglich zur Unzeit, auf welche Rezepte man verfallen könnte, wenn die Misere der Partei im Osten weiter verdrängt wird.
In München wurde verdrängt. Auch das schluckt Energie, und so geriet der grüne Einstieg in den heißen Wahlkampf zu einer eher quälenden Veranstaltung. Die zehn Reformprojekte für eine rot-grüne Regierung in Bonn wurden pflichtgemäß abgehakt und die wahlkampfnotwendigen Stillhalteagreements vereinbart – Verfallsdatum 17. Oktober. Und nur wenn der Wahlausgang es zuließe, daß die Bündnisgrünen als Regierungspartner bald den gesellschaftlichen Problemstau abarbeiten dürfen, könnten sie ihren eigenen Problemstau weiter erfolgreich verdrängen. Doch in der Rolle der Opposition, ohne die disziplinierende Wirkung der Regierungsbeteiligung, wird sich das Parteimanagement einiges einfallen lassen müssen, die programmierten Konflikte auch künftig unter der Decke zu halten. Nächster Länderrat: 22.10.94 Matthias Geis
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