■ In Moskau wurde Wladislaw Listjew beerdigt: Probate Methode
Es ist bemerkenswert, daß Boris Jelzin in seiner Rede vor den KollegInnen des ermordeten Wladislaw Listjew am Donnerstag im Fernsehsender zum Geständnis der eigenen Mitschuld an den gegenwärtigen Zuständen in Rußland fand. In einem Atemzug aber beschwor er die probate Methode, die jedem alten Sowjet-Funktionär als erste einfällt, wenn es in seinem Dienstbereich schon einmal zum Skandal gekommen ist: die Suche nach Sündenböcken.
Entlassen werde er, so versprach Boris Nikolajewitsch, den Moskauer Generalstaatsanwalt Gennadi Ponomarjow und den Chef der örtlichen Kriminalpolizei, Wladimir Pankratow. Weshalb gerade diese beiden Beamten für den Mord an Listjew zur Verantwortung gezogen werden sollen, ist nicht ersichtlich. Gewiß lassen die Erfolge ihrer Behörden zu wünschen übrig, gewiß gibt es unter ihren Untergebenen das für Rußland übliche Ausmaß an Korruption, aber ebenso gewiß hat dies alles äußerst komplexe Gründe.
Ponomarjow und Pankratow werden von ihren Untergebenen als gesetzestreue Profis charakterisiert. Dem noch nicht zwei Jahre lang amtierenden Kriminalpolizeichef ist es gelungen, seinen durch zahlreiche Umstrukturierungen zerrütteten Apparat wieder einigermaßen zum Funktionieren zu bringen. Seit zwanzig Jahren ist kein einziger seiner Vorgänger in Ehren entlassen worden. Alle wurden als Läufer im politischen Schachspiel geopfert. Welchen Einfluß es auf die Effizienz der Moskauer Polizei hätte, wenn sich diese Erfahrung ein weiteres Mal bestätigte, kann man sich leicht ausmalen. Was die Moskauer Staatsanwaltschaft anbetrifft, so verhören in ihren Hallen bereits heute – wegen Personalmangel – schmalschultrige Twens mit allen Wassern gewaschene schwere Jungs. Für den Fall daß Ponomarjow gefeuert werden sollte, haben einige seiner versiertesten Kollegen versprochen, ebenfalls den Dienst zu quittieren.
Gerüchte über die bevorstehende Entlassung Ponomarjows und Pankratows kursieren in Moskau zudem schon seit etwa vierzehn Tagen. Der Generalstaatsanwalt hatte sich im letzten Jahr beim Präsidenten unliebsam gemacht, als er eine Anklage wegen Bestechung gegen Ex-Vizepräsident Alexander Rutskoj zurücknahm. Grund: die belastenden Dokumente erwiesen sich als gefälscht. Wladimir Pankratow geriet sich Ende letzten Jahres mit Jelzins Ober- Leibwächter Korschakow in die Haare. Er war allzu akribisch den Spuren eines brutalen Überfalles nachgegangen, den Korschakows Mannen auf die Wachen der im Moskauer Bürgermeisteramt untergebrachten Most-Bank ausübten. Ganz nebenbei, so vermuten Kenner der Szene, richtete sich diese Gesetzesverletzung des Generals auch gegen den Moskauer Oberbürgermeister Luschkow. Letzterer hat die vom Präsidenten angekündigten personellen Konsequenzen kritisiert. Alles deutet darauf hin, daß Jelzins graue Eminenzen den Tod Listjews benutzen wollen, um ihren eigenen Konflikt mit der Moskauer Stadtverwaltung auf einer neuen Ebene auszutragen. Der beste Rat an Jelzin in dieser Situation hätte lauten müssen: wenn schon kehren, dann eine Etage höher – oder aber hinter der eigenen Tür. Barbara Kerneck
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