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Archiv-Artikel

Immer nur halb im Himmel

Heute startet die große Filmreihe „Celluloid Revolutions“ im Rahmen des China-Festivals im Haus der Kulturen der Welt. Gut durch sie hindurchhangeln lässt sich entlang eines Themas: der Prüderie

VON SUSANNE MESSMER

Pärchen blicken sich beim Shoppen versonnen in die Augen, im Rotlichtviertel treten sich die Prostituierten auf die Füße, in der U-Bahn werben Plakate für knappe Dessous: Wer heute durch Chinas große Städte schlendert, der ist auf den ersten Blick entzückt. Hier ist ja alles wie zu Hause, wird er sich denken. Und wird sich nicht mehr vorstellen können, dass China noch vor wenigen Jahren zugeknöpfter war als die meisten Länder der Erde.

Die Geschichte der Prüderie in China ist eine lange und zähe. Sie trieb auch unter Mao die bizarrsten Blüten und setzt sich, wenn man in den chinesischen Schlafzimmern und abseits der großen Städte nachsieht, bis heute fort. Das ist einer der interessantesten roten Fäden, an denen man sich durch die große Filmreihe „Celluloid Revolutions“ des ausufernden Festivals „China – Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ im HKW hangeln kann. Es ist ein Faden, der zurückführt in die Zeit der vermeintlich kompletten Neuordnung der Geschlechterverhältnisse in der jungen Volksrepublik. Aber es ist auch einer, der tief in das ach so freie China der Gegenwart führt – und der, ganz nach dem Motto des Festivals, das Erinnern als unverzichtbares Mittel zum Verständnis der Gegenwart erklärt.

Beginnen wir mit den frühen Tagen der Volksrepublik. Mao verspricht den Frauen zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte die „Hälfte des Himmels“, also Gleichberechtigung. Er verbietet aber – im Interesse der Gemeinschaft – gleichzeitig nicht nur Prostitution und Pornografie, sondern brandmarkt auch Händchenhalten und Knutschen in der Öffentlichkeit als feudalistisch. Prüderie stärkt in allen Gesellschaftsformen soziale Hierarchien, am wenigsten aber verträgt sich freie Liebe mit dem Klassenkampf: Das ist die Erkenntnis, die man aus vielen Filmen mitnimmt, die in den Jahren der jungen Volksrepublik oder während der Kulturrevolution spielen.

Einer der eindruckvollsten Filme über die Kluft zwischen Maos Verheißungen und der realen Perspektivlosigkeit ist „Yellow Earth“ von 1984. „Yellow Earth“ machte mit seinen kraftvollen, symbolischen und suggestiven Bildern und seiner schonungslosen Kritik Schule. Kaum zu glauben, dass er ausgerechnet von dem bekannten Regisseur Chen Kaige stammt, der heute mit aufwändigen, aber harmlosen Märchenfilmen wie „Wu Ji – Die Reiter der Winde“ – der heute in den deutschen Kinos anläuft und aus unerfindlichen Gründen auch in der HKW-Filmreihe zu sehen ist – ums Establishment buhlt.

„Yellow Earth“ erzählt davon: 1939, mitten im Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten, reist ein Soldat der Roten Armee in den Norden der Shaanxi-Provinz. Hier soll er Volkslieder sammeln, die zu Propagandazwecken taugen könnten. Cui Qiao, die schöne Tochter seiner bitterarmen Gastfamilie, soll bald verheiratet werden und ist darum geradezu bezaubert von den revolutionären Ideen des Soldaten. Doch Cui Qiaos Fluchtversuch scheitert – sie muss heiraten, denn mit hohlen Formeln lassen sich die ökonomischen Probleme der Familie nicht lösen.

Dass außerhalb der Ehe tatsächlich kein Platz für Frauen in der Gesellschaft war, dass das neue System auch Frauen bestrafte, die einfach nur Sex vor der Ehe hatten: das zeigt „Dam Street“, der neueste Film von Li Yin, die vor wenigen Jahren den ersten chinesischen Film über eine lesbische Liebe gemacht hat. Die sechzehnjährige Xiao Yun ist eine der Besten in ihrer Opernklasse. Wir befinden uns mitten in der Kulturrevolution, Erotik kommt höchstens in der kultischen Verehrung des Ersten Vorsitzenden vor. Als Xiao Yuns Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen ist, wird sie über Lautsprecher in der ganzen Stadt der Dekadenz bezichtigt und von der Schule verwiesen.

Was aus der Prüderie wurde, als sich China öffnete, die Macht weniger repressiv und immer verwaltender wurde: darum geht es in „Sons“ von Zhang Yuan aus dem Jahr 1996. Damals war auch Zhang Yuan noch ein Enfant terrible – und macht heute langweilige Filme wie „Little Red Flowers“, der ebenfalls im HKW läuft. „Sons“ jedoch zeigt den Regisseur noch von seiner tollen, streitlustigen Seite. Es geht um das Leben einer realen Familie – den Nachbarn des Filmemachers –, die sich selbst spielt. Der Vater ein Alkoholiker, die beiden erwachsenen Söhne Taugenichtse. Mal knutscht der ältere Bruder mit der Freundin, mal drängt der jüngere dasselbe Mädchen zu sadomasochistischen Spielchen, während der Vater nebenan seinen Rausch ausschläft. Die Familienhierarchien sind zwar im Eimer – aber trotzdem fragt man sich, zu welcher Art sexueller Revolution das Ganze führen soll.

Denn die neu gewonnen Freiheiten gelten nicht für alle und begeistern oft nur die, die genug Zeit haben für Romantik oder genug Geld für die freie Wahl: Das zeigt der Film „Welcome To Destination Shanghai“ von Andrew Cheng (2003), ein pseudodokumentarischer Episodenfilm über Menschen aus den Slums von Schanghai. Es kreuzen sich die Wege Gestrandeter: Die Männlichkeit eines kleinen Machos wird gebrochen, als er sich aus Geldnot prostituiert und gleich von seinem ersten Freier ausgepeitscht wird. Eine Zuhälterin überredet derweil eine alte Freundin, als falsche Ärztin Prostituierten zwecks Wertsteigerung künstliche Jungfernhäutchen anzunähen.

Filme wie dieser berichten anschaulich davon, dass die späte sexuelle Befreiung in China im Gange ist, dass ihre Glücksversprechen aber ebenso verschütt gegangen sind wie die von Mao Zedong. Es mag sie mancherorts geben, die knutschenden Pärchen, die Kondomautomaten und Sexshops. Dennoch lebt die Prüderie fort: Die Leute haben sie sich oft als letzte, ziemlich zweifelhafte Rettung vor der allumfassenden Vermarktung ihrer Welt selbst verordnet. Schade, dass keiner der gezeigten Filme das zum Thema macht: Die meisten jungen Leute haben in China ihren ersten Sex immer noch in der Hochzeitsnacht. Außerdem wird auch deshalb so oft abgetrieben, weil viele Frauen sich bis heute nicht trauen, die Pille zu kaufen. Und das, obwohl es sie in jedem Supermarkt billig und rezeptfrei gibt.

Die Filmreihe läuft bis zum 14. 5.; Programm unter www.hkw.de. Die Autorin ist Regisseurin des Films „Beijing Bubbles – Punk und Rock in Chinas Hauptstadt“, der am 14. 5. im Rahmen von „Celluloid Revolutions“ im HKW gezeigt wird.