Immer einen Schritt voraus – in den Abgrund. taz-LeserInnen zum Interview mit Außenminister Joschka Fischer: Politischer Gemischtwarenladen
betr.: „Wir müssen uns neu erfinden“, taz vom 26. 7. 00
Lieber Joschka Fischer, ich bin zwar kein indischer Computerfachmann, aber sagen wir mal ein Mitglied der Generation Golf.
Vielleicht möchtest du dann mal wissen, warum ich in Australien und nicht mehr in Deutschland lebe. Hier gibt es keine „Ausländer“ und auch keine Gewalt gegen „Ausländer“ – von der Staatsgewalt gegen Asylsuchende mal abgesehen –, sondern Einwanderer und Einwohner mit Aufenthaltserlaubnis, so wie mich. Ich darf Studien- und Arbeitslosenhilfe beziehen, ein Stipendium der Regierung bekommen und beim nationalen multikulturellen Radio- und Fernsehsender SBS arbeiten (siehe „Babylon on Air“, taz 26. 7.). Ich könnte sogar ganz unbürokratisch australischer Staatsbürger werden, aber dann würde Deutschland mich zu einem Ausländer machen – ich müsste meinen Pass abgeben.
SBS wurde geboren, als eine mutige Regierung dem Druck der ethnischen Gruppen – zivilgesellschaftliche Selbstorganisation – nachgab und sich vom Mythos des Monokulturalismus verabschiedete. Jetzt können selbst die Klotzköpfe der heutigen Regierung nichts gegen den allseits beliebten Sender tun. Außerdem ist Multikulti ja auch werbewirksam – hier kann man die Straße mit indischen Computerfachleuten pflastern.
Joschka, ich will in Deutschland wie auch in Australien grün wählen können. Meinst du, wir können das möglich machen?
ENNO HERMANN, Millers Point, Australien
[...] Was wir alles erfahren. Joschka Fischer ist immer schon mehr ein Alternativer als ein Grüner gewesen, und er liest als taz-Abonnent euer Produkt von Anfang an. Außerdem möchte er aus seiner Partei so gern einen politischen Gemischtwarenladen machen, aus dem sich alle bedienen können: die neue Mitte, die Generation Golf, ehemalige Spontis, FAZ-Leser usw. usw. Stutzig macht einen allerdings, dass Schröders Stellvertreter der taz unter anderem inhaltliche Beliebigkeit vorhält. Hätte nicht einer der beiden Interviewer den grünen Staatsschauspieler auf diesen Widerspruch aufmerksam machen können?
Oder mal höflich fragen, wie es eigentlich zusammenpasst, dass er sich einerseits über die völlig unterschiedlichen deutschen Reaktionen zu mörderischen Kampfhunden und mörderischen Neonazis empört, er andererseits als ehemaliger Taxifahrer aber großes Verständnis für deutsche Autofetischisten bekundet? Haben sich offensichtlich nicht getraut, die beiden taz-Journalisten, ihrem Gesprächspartner mit so despektierlichen Fragen – wie zum Beispiel auch zur unterschiedlichen Behandlung von ehemaligen SLA-Milizionären einer- und „normalen“ Asylsuchenden andererseits – die gute Laune zu verderben. [...]
UWE TÜNNERMANN, Lemgo
„Fischer war seiner Partei oft einen Schritt voraus.“ Aber er hat sie sich zurechtgedrechselt.
„Wer versucht, sich durch Ultraradikalismus abzusetzen und fünf Mark für einen Liter Benzin verlangt, marginalisiert sich selbst und wird politikunfähig.“ So ein Mann, der „taz-Abonnent der ersten Stunde“ ist. Aber nicht Leser. Sonst wüsste er, was der Club of Rome und andere ExpertInnen in Sachen Ökologie über den Benzinpreis sagen. Oder er hätte in der taz gelesen, was der Sprit eigentlich kosten müsste und wie der Autoverkehr von FußgängerInnen subventioniert wird. [...]
„Wir müssen weg vom Nein. Man muss die Mitte der Gesellschaft gewinnen.“ Fast wörtlich sagt das in derselben taz CDU-Generalsekretär Polenz. Über die Schwierigkeit, „Nein“ zu sagen, ist geschrieben worden. Wolfgang Borchert hat gefordert: „Sag NEIN!“ Aber der war ja auch gegen den Krieg. Fischers heutige „Aufgabe“ ist es, „die Mitte zu gewinnen“. Und das nennt die taz „einen Schritt voraus“. In den Abgrund. Denn offensichtlich redet Fischer nicht nur so kariert wie Schröder und Co. Er handelt auch danach. Im Kosovo wie in Indien. Ich habe übrigens zehn Jahre grüne Kommunalpolitik gemacht. „Nein“ gesagt haben SPD und CDU – zu jedem unserer Anträge. RICHARD KELBER, Dortmund
Zum Fischer-Interview fällt mir spontan Folgendes ein: „Unsere Oma fährt im Hühnerstall Motorrad ...“ Den Text bitte singen. Dabei stelle ich mir gerade vor, wie Joschka in 20 Jahren über Maßanzüge referiert.
OLF GULUBA, Bayreuth
„Die Grünen haben kein Marketing-Problem. Wir haben ein politisches Problem. Dieses ganze Marketing-Gehusche der Möllemänner ist nichts für uns. Für solche Albernheiten braucht man keine grüne Partei.“
Völlig falsch und verhängnisvoller Irrtum. Möllemanns Marketing-Gehusche hat uns nach der NRW-Wahl ganz übel in Schwierigkeiten gebracht, ohne dass wir entsprechend reagiert haben. Jedes Unternehmen weiß, wie wichtig und daher auch entsprechend teuer „Marketing-Gehusche“ ist. Es verkauft die Produkte und die „Markenpersönlichkeit“ des Unternehmens. Gutes Marketing zeichnet sich auch durch Kreativität und Professionalität aus, wie sie Joschka Fischer für die Partei fordert. Ohne ein qualitativ hochwertiges Marketing hätten die Grünen bei den nächsten Wahlen kaum realistische Chancen.
SÖNKE WILLMS-HEYNG, Düsseldorf
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