: Im Wald der Toten
Der Südwestkirchhof ist groß wie der Tiergarten, aber kaum bekannt. Seit Jahrzehnten verwildert er: Bäume wachsen auf den Gräbern tausender Unbekannter – und einiger Berühmtheiten
Im Jahr 1909 eröffnete die Evangelische Kirche den Südwestkirchhof in Stahnsdorf, mit 206 Hektar Fläche einer der größten Friedhöfe Deutschlands. Die Berliner Gemeinden hatten einige Jahre zuvor die Gründung von drei Großfriedhöfen im Umland beschlossen, um das Bestattungsproblem der rasant wachsenden Metropole zu lösen. Verwirklicht wurde nur der Südwestkirchhof.
Die aufwändige, parkähnliche Gestaltung machte den Südwestkirchhof zum begehrten Begräbnisplatz für Prominente – Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker und Künstler. Nach dem Bau der Mauer fanden Beerdigungen in begrenztem Umfang weiterhin statt, große Teile der Fläche verwilderten jedoch.
Besonders sehenswert: die Friedhofskapelle, ein Gebäude im Stil einer nordischen Stabkirche, sowie aufwändig geschmückte Mausoleen vom Schöneberger Matthäikirchhof, die den Germania-Plänen der Nazis im Weg waren und „umgebettet“ wurden.
Eigentümerin des Kirchhofs ist die Evangelische Kirche, um die Erhaltung kümmert sich ein im Jahr 2000 gegründeter Förderverein. Durch Führungen, Konzerte und Lesungen versuchen seine Mitglieder, das einzigartige Flächendenkmal wieder im Bewusstsein zu verankern. Neueste Errungenschaft des Fördervereins ist ein Audio-Guide-System – das erste auf einem deutschen Friedhof. Besucher können mit einem Lageplan bedeutsame Gräber aufsuchen und auf einem Handgerät Erklärungen abrufen. Die Führung dauert etwa drei Stunden.
VON CLAUDIUS PRÖSSER (TEXT) UND KAI BORNHÖFT (FOTOS)
Vielleicht ist es hier im Regen am schönsten. Bei heiterem Himmel, zumal wenn der Wind von Westen weht, mischt sich die Autobahn in die Geräuschkulisse. Unsichtbar ist sie, aber unüberhörbar. Bei Regen verstummt sie. Wenn Tropfen durch dichtes Blattwerk rauschen und in den Pfützen Blasen werfen, wenn es von allen Seiten gurgelt und gluckert, dann ist er ganz bei sich, dieser Friedhof, der ein Wald ist. Dieser Wald, der ein Friedhof ist.
Stahnsdorf, kurz hinter der Stadtgrenze, zwischen Zehlendorf und Babelsberg. Nördlich verläuft der Teltowkanal, westlich die A 115. Dreilinden ist nicht weit, Steinstücken, der Westberliner Wurmfortsatz. Mittendrin der Südwestkirchhof: ein Gelände, groß wie der Tiergarten, aber nicht annähernd so bekannt. Früher war das anders. Der halbe Berliner Westen bestattete hier jahrzehntelang seine Toten, viele große Namen waren darunter. Eine eigene S-Bahnlinie wurde hierher gebaut. Irgendwann kamen der Krieg, die Mauer, das Vergessen. Und der Wald.
Heute ist der Südwestkirchhof Begräbnisstätte und Biotop zugleich. Wer ihn aufsucht, betritt eine Zwischenwelt, in der Leben und Tod auf eigentümliche Weise koexistieren, einen Ort, der sich dem Gang der Dinge entzogen hat – jenem Gang, dessen Rhythmus die Autobahn markiert. Im Schatten von Kiefern und Eichen, unter Buchen, um die sich armdick der Efeu windet, liegen Abertausende vergessener Grabstellen. Granitsteine ducken sich unzugänglich im Unterholz, schlanke Stelen versinken in einem Teppich aus Nadeln und Laub.
„Letzte Ruhe“ – in Stahnsdorf ist das im Wortsinn zu verstehen. Unter gewöhnlichen Umständen wären die meisten Gräber längst eingeebnet worden – nun verschluckt sie der Wald, bedächtig, unaufhaltsam. Dass das so ist, liegt nicht nur an der deutschen Teilung, die den Parkfriedhof von seinen Gemeinden in Charlottenburg, Schöneberg, Moabit abschnitt. Nach der Wende fehlte schlicht das Geld. Es hätte immenser Summen bedurft, um das verwilderte Areal in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuführen. Aber die Kirche hat auch begriffen, dass in den Jahren der Vernachlässigung ein Ort mit einer überwältigenden Aura entstanden ist, in dem Geschichte und Natur sich gegenseitig durchdringen.
Im Frühjahr ist der Südwestkirchhof voller Leben. Überall entrollen sich Farne, blühen Rhododendren. Eichelhäher rufen, Hasen flüchten ins Gebüsch, Buchfinkenpaare jagen sich sich zwischen den Bäumen. Es riecht nach frischem Gras und Harz. Ihre einstige Funktion, die Gräber würdig einzurahmen, hat die Natur hinter sich gelassen, sie genügt sich selbst. Auch daran mag es liegen, dass gerade hier – auf einem Friedhof – der Gedanke an den Tod seltsam fern bleibt.
Wer sich auf die Suche begibt, findet alte Bekannte: Friedrich Murnau, Werner von Siemens. Zille, Langenscheidt, Humperdinck. Der Südwestkirchhof ist ein offenes Geschichtsbuch voller Widersprüche: hier das Grab des Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid, der in Buchenwald starb, in Rufweite das eines Berliner Polizeipräsidenten und „Mitglieds der NSDAP“, wie der Grabstein stolz vermeldet.
Es lohnt sich aber auch, den Lageplan in der Tasche zu verstauen und ziellos über die weich bemoosten Wege zu wandern. Wer sich darauf einlässt, wird bald lückenhafte Lebensdaten und Namen zu entziffern suchen, bald ins Innere prächtiger Mausoleen spähen, die früher auf Berliner Kirchhöfen standen und der nationalsozialistischen Stadtplanung weichen mussten. Menschen wird er nur selten begegnen. Die wenigen Besucher, die hierher finden, verlieren sich auf dem riesigen Areal.
Selten auch stößt man auf frische Blumen oder ein Grablicht, dafür auf längst verwitterte Inschriften und geborstenen Marmor. Nicht die Vergänglichkeit des Einzelnen gerinnt hier zum Sinnbild, sondern die Vergänglichkeit der Erinnerung. Aber wo keiner mehr ist, der die Gräber pflegt, wo das letzte Gedenken verloschen ist, da hat auch der Schmerz aufgehört zu sein. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke.