: Im Studio
DOKUMENTARFILM Maria Speths Film „9 Leben“ überzeugt durch seinen intelligenten Ansatz
„9 Leben“, die bekanntlich das Geheimnis geschmeidiger Katzen sind, spricht die Regisseurin und Autorin Maria Speth auch den Protagonisten ihres ungewöhnlichen Dokumentarfilms zu. Alle noch jung, zählen sie schon zu Veteranen einer Existenzform, die sie zumindest zwischenzeitlich aufgegeben haben, aber nicht missen möchten. Wie es in Zukunft weitergeht, ist nicht gewiss, aber dass zurückliegende Kindheitserfahrungen reichlich Anstoß zum Abhauen lieferten, wiederholt sich bei allen.
Za, Sunny, Soja, Stöpsel und die anderen waren Punks und Obdachlose. In ihrem Blick, ihrer Sprache, ihrem Körperschmuck und Style ist die abgelegte Zeit in unterschiedlichsten Signalen gegenwärtig, doch die Besonderheit des Films bewirkt, dass alles in eine abgeklärte „Es war einmal“-Erzählung einfließt, gemildert auch durch eine gewisse Zärtlichkeit, mit der die Fragestellerin, Arrangeurin und Schnittmeisterin Maria Speth ihre Outsider-Helden ins rechte Licht rückt.
Indirekt ist „9 Leben“ ein Berlin-Film. Alle, die von sich berichten, kamen irgendwann in der Stadt an – vor allem in Jena muss der Traum vom Straßenleben in Berlin viele Freunde haben, glaubt man den Aussagen im Film. Die Jugendlichen schlossen sich den Ersatzfamilien und Rudelverbänden an, die gepierct, gestylt und von Hunden umgeben im Mauerpark, am Alex und Breiti, also am Alexander- beziehungsweise Breitscheidplatz die Tageszeit verbringen.
Langweilig mag das von außen wirken, tatsächlich verlangt es Überwindung, Glück und Geschick, den Tagesbedarf an Essen, Zigaretten, Alkohol und Drogen zusammenzuschnorren und den nächsten Schlafplatz zu organisieren. Die Peergroup bietet Wärme und Schutz. „Schnorren ist auch Arbeit“, meint Sunny, „und wirklich frei ist man nicht.“ Eloquent, nüchtern und berührend wie alle in diesem Film erzählt die desillusionierte junge Frau vom Leben mit der Droge: Man hält Gefühle nicht mehr aus, man weiß nicht mehr, wie sich echtes Lachen anfühlt.
Falsch und feindlich ist die Außenwelt, die in den Erzählungen der sieben weniger mit der Polizei oder abschätzig urteilenden Normalos identifiziert wird, dafür mehr mit ekligen Freiern, die den Körper kaufen wollen.
Maria Speth lernte ihre Protagonisten bei der Recherche für ihren nächsten Spielfilm kennen. Darin sucht eine Mutter ihre Tochter in Berlin, doch solche elterliche Empathie existiert in der subjektiven Wahrnehmung der „9 Leben“-Kids nicht. Ihre drastischen Sprüche und ihre Fluchten leuchten ein, angesichts ihrer emotional verkümmerten Alten. Väter (arbeitslose) gibt es, die sie in die falsche Schule zwingen, verhasste Mütter, die sich in Scheinwelten zurückziehen, ihre Lover blind zuschlagen lassen oder auch ein unbotmäßiges Kind mit neuem Hausschloss vor die Tür setzen – solche Szenen vom Schlachtfeld Familie sind das Herzstück des Films.
Wie filmt man das Driften auf der Straße ohne Elendstourismus, Helfersyndrom, Besserwisserei? Die in Berlin lebende Regisseurin nahm schon in ihren Spielfilmen „In den Tag hinein“ (2001) und „Madonnen“ (2007) für die rebellische Asozialität ihrer Heldinnen Partei, indem sie im ersten Film Sabine Timoteo als Herumtreiberin und im zweiten Sandra Hüller als dysfunktionale Mutter mit zweideutigem Glamour ausstattete.
Auch „9 Leben“ besticht durch seine Form. Die sieben Protagonisten wurden fern von ihrem Milieu in ein abstraktes Studioambiente gebeten, wo sie vor weißem Hintergrund sitzen und einzeln ihre Lebensgeschichten erzählen. In Schwarz-Weiß aufgenommen und nach thematischen Bezügen montiert, wirken sie wie ausdrucksstarke Leinwandpersönlichkeiten.
Immer wieder zielen die Fragen der Filmemacherin auf die gelingenden, stolzerfüllten Seiten im Leben ihrer GesprächspartnerInnen. Soja etwa hat mit ihrem Hund den Jakobsweg gemeistert und präsentiert erstaunlich schöne Hundeporträts. Toni, Krümel und die Band Les petits Hotz spielen im Film Jazz à la Django Reinhardt und die zierliche Za, die einmal im Musikgymnasium mit dem Cello traktiert wurde, beherrscht das Instrument immer noch und bringt hochkonzentriert klassische Sonaten zu Gehör. Stöpsel schließlich, die zuletzt in den Film eingeführte Expunkerin, Altenpflegerin und mehrfache Mutter, verkörpert verschmitzte Lebenskunst: die Rückkehr in ein sesshaftes Leben mit Kindern und Hausmann ist auch ein mögliches der „neun Leben der Katze“. CLAUDIA LENSSEN
■ „9 Leben“. Dokumentarfilm von Maria Speth, Deutschland 2010, 109 Min.