Im Jahr eins des Eiskunstlaufs

Eiskunstlauf-Europameisterschaften ohne die zurückgetretenen Veteranen  ■  Aus Birmingham Thomas Schreyer

Zuerst flossen Tränen der Freude, dann Sekt für die neue Eiskunstlauf-Europameisterin Claudia Leistner aus Mannheim. Und das im „Jahr eins nach Katarina Witt“. So nämlich wird gesprochen neben der Eisfläche, auf der so einige nach dem Vergangenen zu suchen scheinen. Leere empfindet da mancher, nachdem die großen Meister und Meisterinnen das Wettkampffeld verlassen haben: Katarina Witt, die zweifache Olympiasiegerin aus der DDR, das sowjetische Eistanzpaar Bestemianova/Bukin und ihre Landsleute Valova/Vasiliev im Paarlauf, der zudem durch das verletzungsbedingte Fehlen von Gordeeva/Grinkov (UdSSR) geschwächt schien.

Die SiegerInnen von Birmingham mußten sich immer wieder die Frage gefallen lassen, ob sie denn „nur“ gewonnen hätten, weil die Stars zurückgetreten seien. Marina Klimova, mit Partner Ponomarenko Erste im Eistanzen, schien fast etwas beleidigt. Die ewig Zweite, nach vielen Jahren Schattendaseins endlich auf das höchste Treppchen gestiegen, verneinte natürlich und antwortete, daß das Training, die neue Situation und die Motivation ausschlaggebend gewesen seien.

„Die Veteranen sind abgetreten“, sagte Paul Duchesnay, im Vorjahr gefeierter Eis-Tarzan, heuer wegen Verletzung seiner Partnerin nur Zuschauer, „und es ist eine Lücke da, aber keine so große.“ Doch gerade die Lücke war es, die die Wettkämpfe interessant werden ließ. Denn so manche der KufenkünstlerInnen wollten die Chance nicht verpassen, in eben diese Lücke hineinzurutschen. Das steigerte die Risikobereitschaft, die Akrobatik, die Einsatzfreude, was freilich nicht immer auch mit Freudentänzen endete.

Der bundesdeutsche Meister Richard Zander, überraschend Erster nach den Pflichtdarbietungen, vermoche dem sich selbst auferlegten Druck nicht standzuhalten, patzte im Originalprogramm gleich mehrmals, konnte den Frust auf dem Eis nicht mehr abkühlen, trat zurück und reiste ab schneller, als seine auf das Eis gekratzten Spuren verwischt werden konnten.

Auch Claudia Leistner zeigte nach fehlerlosen Vorläufen kleine Unsicherheiten in der Kür. Die 24jährige behielt aber die Nerven und lief ihr bestes Ergebnis nach 1982, als sie Vizeweltmeisterin geworden war. „Bei mir wurde der Druck nur von außen gemacht, durch die Presse“, winkte Leistner ab, die in der Arena-Halle von Birmingham gefeiert wurde und nur etwas weniger Blumen von den Fans nachgetragen bekam als die „Heim-Läuferin“ Conway.

Ovationen der Engländer und Engländerinnen hinnehmen zu dürfen, scheint ein echter Maßstab zu sein. Das kalte englische Publikum, das nur selten für eine heiße Stimmung sorgte, sparsamst applaudierte und wahrlich aus der Reserve gelockt werden mußte, belohnte dafür um so mehr seine Günstlinge. Claudia Leistner gehörte dazu. Charmantes Auftreten, die genau berechnete visuelle Interaktion mit den KampfrichterInnen, das wissen die Inselbewohner zu schätzen, auch wenn da mal jemand vom Kontinent kommt. Sie fanden Gefallen an der sicheren, aber entspannten Form, in der sich Claudia Leistner präsentierte und die es ihr sogar während der Kür erlaubte, dem Trainer ein Lächeln über die Bande zu senden. Das Zeichen für „Okay, es läuft, und es macht Spaß“ verstanden auch die Zuschauer.

Das Publikum belohnte nicht nur die Besten: stehende Ovationen für das finnische Eistanzpaar Ralkano und Kokko, das fast eine Zugabe hätte zeigen müssen, obwohl es sich am Ende ganz weit hinten plazierte, machten deutlich, daß umjubelt wird, was auch nur annähernd an die Zeiten von Torvill/Dean erinnert, an die weltbesten Eistänzer, die es je gab. Das Publikum scheint auch heute noch von den beiden Briten zu träumen und die NachfolgerInnen an ihnen zu messen. Vielleicht auch Katarina Witt, nach der immer wieder gefragt wurde und möglicherweise erinnerte auch Claudia Leistner mit dem einen oder anderen Element daran. Das englische Publikum scheint gern mit der Vergangenheit zu leben. An den Haltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel vermischen sich nach den Wettkämpfen die Namen der heutigen Sieger mit denen von damals.