Im Geiselcamp-TV

Halten Kommerz und Quotendruck die Berichterstattung über die so genannte Dritte Welt gefangen? Wird über Ereignisse dort nur berichtet, wenn sich Katastrophen abspielen, die uns selbst betreffen?Was interessiert uns eigentlich wirklich?

von SVEN HANSEN

Roland Ullah ist nicht Renate Wallert. Die Göttinger Lehrerin kennt in Deutschland jedes Kind. Das war doch die Geisel aus dem Dschungel auf . . . – ja wie hieß das doch noch gleich? Jolo? Ja genau, so eine gesetzlose Insel, wo Journalisten Eintritt für einen Geiselzoo zahlen mussten. Und Renate Wallert war doch die Heulsuse, über die täglich berichtet wurde. Wo war das noch mal? Malaysia, Indonesien, Philippinen? Na irgendwo da unten, Sie wissen schon. Doch wer ist Roland, Roland wie? Ullah? – Nie gehört! Muss man den kennen?

Roland Ullah ist auch eine Geisel. Er wurde gemeinsam mit der Familie Wallert am 23. April vorigen Jahres von der malaysischen Ferieninsel Sipadan entführt. Wie die Wallerts und die anderen westlichen Geiseln wurde Ullah von so genannten Rebellen der Abu Sayyaf auf die südphilippinische Insel Jolo verschleppt.

Doch von Roland Ullah haben wir nie etwas gelesen, gesehen oder gehört. Während alle anderen Jolo-Geiseln nach und nach freigekauft wurden, fliehen konnten oder wie jetzt zuletzt am 12. April der US-Amerikaner Jeffrey Schilling sogar vom Militär freigeschossen wurden, ist Ullah noch immer in Geiselhaft auf Jolo. Seit einem Jahr. Ullah ist Tauchlehrer – und Filipino.

Wurde deshalb bei uns nie über ihn berichtet, weil die Entführung von Filipinos in den Südphilippinen traurige Normalität ist?

Wie kaum ein anderes Ereignis in der so genannten Dritten Welt hat die Geiselkrise von Jolo im vorigen Jahr über Monate die Medien in Deutschland beschäftigt. Jolo war Reality-TV namens Geiselcamp und Renate Wallert die Quotenqueen. Statt Traumurlaub unter Palmen war Jolo der „Horror im Tropenparadies“, so der Titel von Werner Wallerts Tagebuch. Jolo war unkontrolliertes Abenteuer in der Dritten Welt, und die Kamera war immer dabei.

Selten haben deutsche Medien so viele Journalisten auf eine kleine ferne Insel geschickt und keine Mühe gescheut, um uns über die Geschehnisse in einer bis dahin unbekannten Region zu informieren. Dort herrscht seit dreißig Jahren Bürgerkrieg unterschiedlichster Intensität, doch das hatte bis dahin noch niemanden interessiert.

In Jolo drängten Journalisten aller Couleur ins Geiselcamp – um zu informieren? Über Renate Wallert? Über Roland Ullah? Über die Hintergründe des Konflikts zwischen muslimischen Separatisten und dem christlich dominierten philippinischen Staatsapparat?

Interessieren uns Ereignisse in der Dritten Welt nur, wenn sich dort wie in Jolo Katastrophen abspielen, die uns irgendwie betreffen? Wenn das Fernsehen dabei ist? Oder wenn „wir“ dort wirtschaftliche Interessen haben?

Oder nur dann, wenn sich die Menschen dort und die Ereignisse so schön in unser Bild einfügen, das wir uns von der Dritten Welt gemacht haben? Das vom edlen Wilden, von heldenhaften Revolutionären und von korrupten Diktatoren?

Warum hat fast jeder schon von den dreitausend Paar Schuhen der Dikatorenwitwe Imelda Marcos gehört, aber bis zum vergangenen Jahr fast niemand vom Konflikt im Süden der Philippinen? Wie viele weiße Flecken wollen wir uns auf der Karte der internationalen Berichterstattung leisten?

Wie viele Kriege, Katastrophen, wie viel Not und Elend können wir täglich ertragen, ohne abzustumpfen oder abzuschalten?

Warum rebellieren wir nicht, wenn wir wie beim Golf- oder Kosovokrieg von Militärsprechern meist nur nichts sagende Informationen erhalten?

Wie viel Differenzierung interessiert uns wirklich, wie viel Widersprüchlichkeit halten wir aus?

Wie viel Neugier auf Unbekanntes haben wir, und was ist uns diese Neugier eigentlich wert?

Ausgehend von der Geiselkrise in Jolo möchte die taz-Auslandsredaktion diese Fragen der Dritte-Welt-Berichterstattung mit Kollegen und Lesern diskutieren und einen Blick hinter die Kulissen werfen. Eingeladen haben wir Spiegel-Korrespondent Andreas Lorenz aus Peking. Er berichtete im vergangenen Jahr aus Jolo und wurde zweimal selbst von den Rebellen festgehalten, einmal sogar für 25 Tage entführt. Sein Verhalten war unter Kollegen umstritten. Für Lorenz, der zuvor Korrespondent in Bangkok und Warschau war, gehören Journalisten bei der Berichterstattung aus Krisengebieten selbstverständlich in die erste Reihe. Von ihm wollen wir wissen, wie er heute das Verhalten der Journalisten während der Jolo-Krise bewertet und welche Lehren er daraus zieht.

taz-Korrespondentin Kordula Doerfler berichtete bis Ende März sechs Jahre lang aus dem südlichen Afrika. Sie kennt die Herausforderungen, Probleme und Tücken der Dritte-Welt-Berichterstattung aus eigener Anschauung und weiß, wie man Themen aus dem Süden wenden muss, damit sie in die Zeitung kommen, welche Konjunkturen und Klischees es gibt und wie schwer es sein kann, Themen in die Zeitung zu bekommen, über die noch keine Nachrichtenagentur berichtet hat.

Diese Innensicht aus dem Alltag einer Nachrichtenagentur bietet uns Thomas Lanig von dpa. Er leitet heute den englischsprachigen Dienst der Agentur in Hamburg und war zuvor mehrere Jahre dpa-Korrespondent in Singapur. Er weiß, welche Meldungen aus der Dritten Welt Zeitungen abdrucken, was die größten Chancen auf Veröffentlichungen hat. Heute betreut er Kunden, die selbst in der so genannten Dritten Welt sitzen, und kann berichten, wie die deutsche Berichterstattung dort wahrgenommen wird.

Konrad Melchers von der epd-Entwicklungspolitik aus Frankfurt am Main ist Afrikaexperte. Als langjähriger Redakteur einer renommierten Fachzeitschrift kennt er das Problem, dass Dritte-Welt-Themen nur selten populär sind und es für kontinuierliche und solide Hintergrundinformationen nur einen kleinen Markt gibt. Als Mitbegründer des Dritte-Welt-JournalistInnennetzwerks und der Initiative MediaWatch ist Melchers ein Vorkämpfer für fundierte Dritte-Welt-Berichterstattung in Deutschland und für den Versuch, Journalisten zur Selbstreflexion und Diskussion ihrer Auslandsberichterstattung zu ermuntern.

Sven Hansen, 39, ist taz-Auslandsredakteur. Er moderiert das taz-Forum: Die Jolo-Geiseln und die Medien. Was interessiert uns an der Dritten Welt? Mit Kordula Doerfler, bis Ende März taz-Südafrikakorrespondentin; Thomas Lanig, Leiter des englischsprachigen Dienstes, dpa; Andreas Lorenz, Spiegel-Korrespondent in Peking;Konrad Melchers, epd. Sonntag, 29. April, 11–13 Uhr