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Ilse Aichinger:

■ Ein „Brief an Rushdie“

Ich weiß wie Sie, lieber Salman Rushdie, daß Redefreiheit Leben ist. Ich weiß es, und ich habe es wissen gelernt. Wissen ohne Wissen gelernt zu haben, ist zuweilen gefährlich. Die Gewißheit, sich in eine Situation versetzen zu können, in die man nicht geraten ist, führt zu Fehlschlüssen. Jeanne d'Arc, die heute vermutlich in eine Nervenklinik eingewiesen würde, zumindest fürs erste, taugt nicht so recht für klassische Stücke. Auch das Stück, das mit Ihnen, Salman Rushdie, als zur Hauptfigur Verurteiltem, augenblicklich gegeben wird, ist für das Burgtheater nicht geeignet.

Die Lastwagen, die vor 50 Jahren Richtung Auschwitz oder Minsk über die Schwedenbrücke fuhren — in einem davon sah ich meine Großmutter zum letzten Mal — waren für viele in Wien durchaus ein Schauspiel, dem man gleichgültig, wenn nicht beifällig zuschaute, nicht gerade wie einem Nestroy, aber auch nicht wie einem Samuel Beckett, der das Entsetzen teilt.

Salman Rushdie hat Angst. Es fehlt ihm der Todesmut, der von ihm verlangt wird. Seine Häscher glauben ihn zu haben.

U-Boot nannte man im Krieg diejenigen, die untertauchen mußten, um der Folter und einem grausamen Tod zu entgehen. Es waren sehr wenige, und die gehörten nicht zu den Glücklichen, sofern sie nicht angezeigt und gefunden wurden. Es ist kein schlechter Vergleich. Auch die Möglichkeit, aus einem Unterseeboot nie mehr auftauchen zu können, die unerschöpflichen Variationen der Angst, die sie begleiten, bleibt für die Norm unvorstellbar.

Aus dem Wort Norm wird im heutigen Sprachgebrauch normal hergeleitet. Und „normal“ bedeutet in diesem Sprachgebrauch sich anzupassen, sich in fremde Qualen nicht hineinzumischen, fremde Angst nicht zu teilen. Jeder von uns sollte auf der Hut sein, und den Fall Salman Rushdie sollte jeder mit genügend Angst vor sich selbst bedenken. Denn wir sind nicht Salman Rushdies Kollegen. Wir sind Salman Rushdie.

Ilse Aichinger

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