Iglu am U-Bahnhof: Eis überm Kopf
Ein Obdachloser hat sich direkt am U-Bahnhof Nollendorfplatz ein fast schon komfortables Iglu gebaut - und zieht davor eine ziemlich erfolgreiche Show ab.
Hotte steht auf seinem Iglu und lässt sich feiern. Der 52-jährige Obdachlose hat einige Fans gefunden, seit die Geschichte von ihm und seiner Schneehöhle vor dem U-Bahnhof Nollendorfplatz im Boulevardblatt B.Z. stand. Zahlreiche Medienvertreter und Zaungäste sind an diesem Montagmorgen gekommen, um sein mit Tannenbäumen, Kleidungsstücken, einem Einkaufswagen und einer leeren Schnapsflasche dekoriertes Bauwerk zu bewundern.
Der gelernte Maurer Horst "Hotte" Holtfreter genießt die Aufmerksamkeit sichtlich: Er presst seinen kleinen Weltempfänger ans Ohr, kneift die Augen zusammen und entlockt seiner Mundharmonika eine Reihe schräger Töne. Das Gedudel will gar nicht mehr aufhören. "Rock n Roll!", brüllt der angehende Medienstar seinem Publikum zu.
Nachdem er sich von der Plattform bequemt hat, die er für solche Auftritte auf das Iglu gebaut hat, wirft sich Holtfreter für die Fotografen in laszive Posen. Der Rummel lohnt sich: Holtfreter schüttelt seine klimpernde Jackentasche: "Ums Saufen muss ich mir heute keine Sorgen machen", sagt er. Eine alte Frau, die ihm einen Euro zusteckt, umarmt er herzlich.
So richtig nüchtern ist Holtfreter an diesem Morgen gegen 11 Uhr schon nicht mehr. Sein Sangria geht zur Neige; auch die Schnapsflasche eines Kollegen hat es ihm angetan. "Wenn der getrunken hat, kann er schon aggressiv werden", sagt Robert Schwarz, ein Freund von Holtfreter und ebenfalls Obdachloser: "Aber wenn er nüchtern ist, ist er gut auszustehen." Das bestätigt auch der zuständige Kontaktbereichsbeamte der Polizei, der öfter mal nach Holtfreter sieht. "Der ist durchaus bekannt bei uns", sagt er. Solange es keinen Ärger gibt, lassen er, seine Kollegen und auch die BVG Holtfreter gewähren.
Zum Übernachten geht Holtfreter sowieso in die Notunterkunft in der Lehrter Straße. Aber am kommenden Freitag wollen er und sein Freund Gerd das Iglu auch als Schlafplatz einweihen. "Der Gerd kann richtig gut Gitarre spielen, dazu ich mit der Mundharmonika, das gibt richtig Rock n Roll", freut sich Holtfreter auf die Party, die die beiden veranstalten wollen.
Aber wie jeder Star hat auch Holtfreter mit Anfeindungen aus seiner Umwelt zu kämpfen. "Der macht den anderen das Geschäft kaputt", sagt Karsten Normann, der als Betreuer einer Rollstuhlfahrerin hier ist, die auch bettelt und wegen Holtfreter jetzt weniger verdient. "Das ist der Neid", entgegnet der stolze Bauherr und scheucht mit demselben Argument einen Freund davon, der sich gern zwei Euro geliehen hätte.
Seit sieben Jahren lebt Holtfreter auf der Straße. Der Mann in Tarnjacke und Lederhose und mit den offenen Wunden an den Fingern wuchs bei Schwerin auf, wo heute noch seine Tochter lebt. Verheiratet war er nie. Den Ort für seinen Bau hat er an Silvester gewählt. "Eigentlich wollte ich bloß einen Schneemann bauen", so der Medienmagnet. "Da war das hier noch nicht so hoch", sagt er und zeigt auf den Schneehaufen hinter sich. Knapp zweieinhalb Meter misst der Berg mittlerweile. Als der Haufen größer wurde, hat Holtfreter dort einen Kinderwagen eingebuddelt, den er gefunden hat. "Aus Gag", sagt er und: "Mit drei Liter Sangria im Blut kommt man auf wilde Ideen."
Der Kinderwagen war rasch verschwunden, und so beschloss Holtfreter, sich von der anderen Seite des Schneebergs einen Gang bis zu dem Gefährt zu bauen. "Das haben wir ja als Kinder auch immer so gemacht, Gänge gegraben", sagt Holtfreter. Der Gang wurde eine Höhle, und die Höhle wurde schließlich ein Wohnraum mit zwei Ebenen. Teile des Bürgersteigs und des höher gelegenen Blumenbeets bilden nun den Boden seiner Behausung. "Hotte, denk an den Fahrstuhl", kommentiert ein Bekannter Holtfreters die zwei Ebenen der Behausung. Der Kinderwagen, den Holtfreter im Schneeberg suchte, ist im hinteren Bereich der Höhle halb freigelegt. "Aber bis ich den wieder nutzen kann, muss ich wohl bis Frühjahr warten", so Horst Holtfreter.
Der Schneeberg, in den das Iglu eingebaut ist, ist mittlerweile zu Eis geworden. "Hart wie Beton ist das", sagt der Obdachlose und tritt anerkennend gegen sein Werk. "Sieht zwar nicht schön aus, aber wirkt", kommentiert er das Wärmepotenzial seines Unterschlupfs. Die Kälte sei aber sowieso kein Problem. "Wenn mir kalt ist, bau ich noch ein bisschen dran rum, dann ist mir wieder warm", sagt der Obdachlose. Das nächste Projekt soll ein Notausgang sein.
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