„Ich war ein Kriegsgefangener“

■ François Mitterrand zu der Kritik an seiner umstrittenen Rolle im Kollaborationsregime von Vichy (1940–44)

Im September 1994 sorgte der Historiker Pierre Péan in Frankreich für Aufsehen. In seinem Buch „Eine Jugend in Frankreich (1934–1947) beschreibt er 13 Jahre aus dem Leben des späteren Präsidenten François Mitterrand. Und die waren weniger glorreich, als bisher angenommen, besonders, was Mitterrands Rolle im Vichy-Regime betraf. Der Mythos vom Widerstandskämpfer, als der er sich bis dahin in der Öffentlichkeit immer präsentiert hatte, bröckelte. In einem Interview mit dem Präsidenten von France-Telecom, Jean-Pierre Elkabbach, das am 12. September 1994 vom Fernsehkanal France 2 ausgestrahlt wurde und im folgenden in Auszügen dokumentiert wird, äußerte sich Mitterrand zu seiner Vergangenheit.

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Zu einem Foto in Péans Buch, das ihn 1934 bei einer Demonstration gegen „die Invasion der Ausländer“ zeigt:

„Meiner Meinung nach hatte die Demonstration nicht dieses Ziel. Auf jeden Fall kann ich mich nicht daran erinnern. Ich bleibe aber dabei: Niemals, weder von meinem Temperament her noch durch Gewohnheit oder Erziehung bin ich Ausländern gegenüber feindlich eingestellt gewesen. Ich war nie empfänglich für Rassismus.“

1941, nach geglückter Flucht aus deutscher Kriegsgefangenschaft, kehrte Mitterrand nach Frankreich zurück. Was dachte er damals über die antijüdische Gesetzgebung?

„Sie sagen ,antijüdische Gesetzgebung‘. Es handelte sich, was nichts zurechtrückt und auch nichts entschuldigt, um eine Gesetzgebung gegen ausländische Juden. Doch davon wußte ich nichts. Denn, bei allem, was ich sehe, und in allen Kommentaren, die jetzt geschrieben werden, wird immer vergessen, daß ich während dieser ganzen Zeit Kriegsgefangener in Deutschland war. ... Und als ich 1942 bei der jüdischen Familie Lévy-Despas war, haben sie mir nichts davon erzählt. ... Was die Konzentrationslager anbelangt, da war ich auf dem gleichen Stand, wie alle informierten Franzosen, das heißt, ich wußte nicht viel. Ich habe das alles erst 1944 erfahren, diese Rohheit und Barbarei, die unvorstellbar waren. ... Was die Résistance betrifft, da mußte man wirklich Glück haben, Leute zu treffen, die im Widerstand waren. Und solche habe ich in Vichy getroffen ... Einige Leute, die in der höheren Verwaltung von Vichy saßen und in ihrem Inneren Widerstandskämpfer waren und schon die Zukunft vorbereiteten ... Natürlich, kurz nachdem Pétain an die Macht gekommen war, haben sich viele Anhänger der extremen Rechten in Nischen hineingedrängt. Die wollten mit der Republik abrechnen oder ihren Antisemitismus befriedigen. ... Daneben gab es aber auch viele höhere Funktionäre, die, vom patiotischen Standpunkt aus, unanfechtbar waren.“

Das Verhältnis zu Pétain:

„Damals lebte man in dem idiotischen Glauben, der sehr verbreitet war, daß Pétain und de Gaulle konform gingen. Das dachte man in den Lagern. Dort gab es sogenannte Pétain- Kreise. Ich habe mich mit Aktionen gegen solche Art von Anhängerschaft gewehrt, die sehr schnell ideologisch wurde, daß sie Pétain zum Inbegriff der nationalen Revolution machte. ... Ich habe einige Zeit mit dieser dummen Hypothese gelebt. Aber das dauerte nicht lange. Ich werde mich im Namen Frankreichs nicht entschuldigen.“

Ob er sich nicht zu spät in der Résistance engagiert habe?

„Hören Sie mal: Ich bin Ende 41 nach Frankreich zurückgekommen. So genau erinnere ich mich nicht mehr, immerhin ist das 53 Jahre her. Das war für mich ganz normal, und ich fand mich seit Juni 1942 in Organisationen ... mit interessanten Leuten, die zu einem großen Teil gute Freunde geblieben sind ...“