: „Ich protestiere entschieden und erneut...“
■ Honecker verteidigt Schießbefehl an der Grenze/ Justizsenatorin Limbach: Keßler wollte doch nicht fliehen
Berlin/Moskau/Hamburg. Der ehemalige DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker hat die Verhaftung von führenden DDR-Politikern im Zusammenhang mit dem Schießbefehl an der Mauer als „Verleumdung der ehemaligen Partei- und Staatsführung als Mörder“ und als „Hexenjagd“ verurteilt.
In einer vom Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel‘ vorab veröffentlichten Erklärung verglich Honecker die Ermittlungsverfahren wegen der Schüsse an der Mauer mit dem Reichstagsbrandprozeß, der den Nazis 1933 als Vorwand zur Ausschaltung der kommunistischen und sozialdemokratischen Opposition gedient hatte. „Im Bundestag sitzen doch auch — mit Ausnahme der SPD — die Parteien, die 1982 in der Volkskammer für das Grenzgesetz... stimmten“, sagte Honecker, der sich im März dem Haftbefehl der Berliner Justiz durch die Verlegung nach Moskau entzogen hatte, wo er seither gemeinsam mit seiner Frau in einem Krankenhaus lebt.
Die Grenzanlagen der DDR seien auf Beschluß des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Pakts zur Sicherung der Grenze der DDR als souveränem Staat und des Warschauer Pakts als völkerrechtlich anerkannte Gemeinschaft errichtet worden und hätten somit dem Völkerrecht entsprochen, verteidigte Honecker den Schießbefehl. „Ich protestiere entschieden und erneut gegen den gegen mich erlassenen Haftbefehl, gegen Verhaftungen, Strafverfahren aus durchschaubaren politischen Motiven, gegen die Kriminalisierung der Politik der DDR, einer Politik, die doch maßgeblich zur Wahrung des Friedens in Europa und in der Welt beigetragen hat“, erklärte Honecker.
In einem ebenfalls vom 'Spiegel‘ veröffentlichten 'adn‘-Interview mit Honecker vom 25.Mai sagte der frühere DDR-Staatschef, er befinde sich in Moskau im politischen Asyl. „Das wurde mir aufgrund meiner Bitte gewährt, weil, solange der Haftbefehl besteht, ich selbstverständlich nicht die Absicht habe, nach Deutschland zurückzukommen“, sagte Honecker. Er widersprach damit der bisherigen offiziellen Darstellung der sowjetischen Regierung, wonach Honecker lediglich aus medizinischen Gründen vom Militärhospital Beelitz nach Moskau ausgeflogen worden sei.
Außer gegen Honecker hatte die Berliner Justiz am 21. Mai Haftbefehl gegen den früheren DDR-Regierungschef Willi Stoph, den ehemaligen Verteidigungsminister Heinz Keßler sowie zwei weitere SED-Funktionäre erlassen, die an der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates 1974 teilgenommen hatten, auf die der Schießbefehl zurückgehen soll.
Nach Angaben der Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD) stellte sich inzwischen jedoch das Keßler zur Last gelegte Fluchtvorhaben als Fehlinformation heraus. Im 'Spandauer Volksblatt‘ (Sonntagsausgabe) erklärte Limbach, die Berliner Justiz sei „zu der Auffassung gelangt, daß sein angenommener Fluchtversuch in Wahrheit gar kein Fluchtversuch war“. Keßlers Rechtsanwalt habe belegen können, daß ein vierwöchiger Kuraufenthalt in der Sowjetunion schon lange geplant war. „Aber aus der Honecker-Flucht haben wir unsere Lehren gezogen.“ Keßler war am 21. Mai nach Durchsuchung seiner Wohnung festgenommen worden.
In den Ermittlungen der Berliner Kriminalpolizei gegen die Todesschützen an der Mauer sind nach einem Bericht der 'Berliner Morgenpost‘ (Sonntagsausgabe) bereits 20 Fälle soweit aufgeklärt, daß die Schützen als einwandfrei identifiziert gelten.
Insgesamt ermittle die Kriminalpolizei derzeit in über 50 Fällen gegen Grenzsoldaten, die für die rund 200 Opfer an der innerdeutschen Grenze verantwortlich sind. afp
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