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INTERVIEWUnser Parlament ist schwach

■ Jacek Kuron über die Zukunft der demokratischen Entwicklung in Polen

taz: Seit dem vergangenen Jahr heißt es, daß so schnell wie möglich parlamentarische Neuwahlen, das heißt zum ersten Mal vollkommen freie Wahlen in Polen stattfinden müssen, um endlich die Kompromißordnung des „Runden Tisches“ durch eine demokratische Ordnung abzulösen. Jetzt hat das Abgeordnetenhaus beschlossen, sich erst im Herbst aufzulösen.

Jacek Kuron: Wir haben ein schwaches Parlament. Schwach — weil es aus nichtdemokratischen Wahlen hervorgegangen ist — ein 35prozentig demokratisches Parlament, so sagt man. Aber wahr ist auch, daß das nächste Parlament keineswegs demokratischer sein könnte als das jetzige. Also, das Parlament ist schwach. Wir haben einen gewählten Präsidenten zusammen mit einer sehr schwachen Regierung und eine Situation, in der die Gesellschaft das Regierungsprogramm zurückweist. Das aber bedeutet, daß auch der Präsident schwach ist, und das alles zusammen ist schlecht. Unter diesem Gesichtspunkt sind schnelle Parlamentswahlen so notwendig wie die Luft zum Atmen. Aber auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, daß die Leute unglaublich müde sind, daß sie genug haben von Wahlen und von Politik.

Das heißt Sie befürchten, daß die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent liegen würde?

Ja erheblich darunter. Ich habe nicht umsonst von dem „35-Prozent- Parlament“ gesprochen. Die Wahlordnung ist noch nicht beschlossen, aber es wird Verhältniswahlen geben, das ist klar, mit einer gewissen Prozenthürde. Wenn wir also auch noch berücksichtigen, daß eine relativ große Anzahl von Stimmen durch die Prozenthürde nicht zur Geltung kommen werden, dann kann das Wahlergebnis eine äußerst eingeschränkte Repräsentation der Wähler bedeuten und das heißt wieder: ein schwaches Parlament als Ergebnis einer gesellschaftlichen Ermüdung. Aber hinzu kommt noch das Chaos im Bewußtsein der Leute. Die alte Ordnung ist noch nicht aufgebaut. Es gibt keine ausgeprägte Differenzierung in der Gesellschaft, und noch weniger ausgeprägt ist sie in der Politik. Es ist so, als wenn noch keiner eine Vorstellung entwickelt hätte von den Zeiten, die auf uns zukommen. Es herrscht ein unvorstellbares Chaos, und in diesem Chaos werden die Wahlen unerhört zufällig sein.

Auf dem ROAD-Kongreß (Mitte- Links-Gruppierung, die aus der Solidarność hervorging) begründeten Sie ihr Plädoyer für eine Vereinigung der ROAD und Unia Demokratyczna. Wie ist das zu verstehen?

Wir haben es mit folgenden zwei Konfliktzentren zu tun. Einmal mit der Marktwirtschaft und ihren Gegnern und zum anderen mit der parlamentarischen Demokratie und ihren Gegnern. Daraus folgt, daß die Anhänger der Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie natürlicherweise ein gemeinsames grundlegendes politisches Lager bilden sollten. Ich sage nicht unbedingt, daß das das stärkste Lager sein muß, aber ein ausgeprägtes, einheitliches und eindeutiges politisches Lager. In Wirklichkeit ist es aber so, daß gerade dieses Lager in die verschiedensten Richtungen gespalten ist. Und das ist eben die Konsequenz der weitgehenden gesellschaftlichen Desintegration. Im übrigen müssen Sie berücksichtigen, daß die politische Organisierung der Gesellschaft schließlich auch nur eine Form der Organisierung der Gesellschaft ist. Das heißt, ohne daß sich die Gesellschaft organisiert, lokal, gewerkschaftlich, in Selbsthilfeorganisationen, in Organisationen des Busineß usw., bleibt die Struktur der politischen Organisierung krank. Die Gesellschaft kann unglaublich differenziert sein; worauf es ankommt, ist, ob sie organisiert ist, denn nur dann ist sie auch integriert. Die traditionellen Ideologien gelten nicht mehr, und auch die bisherigen politischen Ideen greifen nicht mehr, eben weil sie, kurz gesagt, antitotalitäre Ideen waren. Alles ist irgendwie zu Ende, und etwas Neues wächst nur unter ungeheuren Schwierigkeiten.

Was bedeutet das für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen dem Porozumienie Centrum und der Gruppierung ROAD/Demokratische Union? Ist diese Spaltung unbegründet? Rokita, führendes Mitglied der Demokratischen Union, entwickelte kürzlich in der 'Zycie Warszawy‘, daß gerade diese beiden Parteien (Porozumienie Centrum hat gerade beschlossen, sich auch als Partei registrieren zu lassen) zwei grundlegende politische Lager bilden müßten. Das steht im Widerspruch zu Ihrer Einschätzung.

Was für ein Widerspruch. Ich bin nicht Rokita. Gerade die Spaltung in diese beiden Parteien ist unglaublich zufällig. Ich wiederhole, die Haltung in den zwei Fragen: Marktwirtschaft ja oder nein und parlamentarische Demokratie ja oder nein bezeichnet die normale, verständliche und unabdingbare Fragestellung, an der sich die Spaltung vollziehen muß, alle anderen Fragen sind zweit-, fünft- oder zehntrangig. Im Verhältnis zu diesen Fragen verläuft die Spaltung anders als die nach den bisherigen politischen Parteien. Also einerseits haben wir die Anhänger der Marktwirtschaft und andererseits die Gegner, aber diese haben ihre Position noch nicht ausformuliert. Die mächtige Forderungswelle, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben, ist eine, die ausgehend vom Boden der kommunistischen Ordnung formuliert wird. Natürlich, die Leute möchten das behalten, was sie schon einmal hatten. Das ist verständlich, so haben sich die Menschen immer verhalten. Sie wollen zwar auch die Marktwirtschaft, aber was heißt das? Ein Beispiel: Die Belegschaft von Ursus will streiken „bis zum Ende“, das heißt, sie wollen eine bestimmte Lohnerhöhung; weil sie wissen, daß das nur geht, wenn die ganze Fabrik anders funktioniert, verlangen sie einen anderen, einen besseren Manager. Sie werfen ihren Direktor hinaus und verlangen einen neuen. Mit anderen Worten, sie veranstalten einen Besetzungsstreik für einen neuen Direktor oder Eigentümer oder ... jedenfalls jemanden, der sie gut bezahlt. Wie Sie sich ausrechnen können, wird das einzige Ergebnis dieses ganzen Vorgehens der Bankrott der Fabrik sein. Solche Verhaltensweisen sind an der Tagesordnung. Nehmen Sie unseren neuen Präsidenten. Kürzlich versprach er öffentlich dem Kabarettisten Pietrzak ein Lokal, indem er mit seinem Kabarett auftreten kann. Das heißt, der Arme, er weiß nicht, daß die Zeiten vorbei sind, wo die Macht einfach gab. Er kann dieses Lokal nicht geben, sondern höchstens mieten. Wenn er es mietet, muß er es bezahlen. Stellt sich die Frage: Warum soll der Präsident das Lokal bezahlen und nicht das Kabarett?

Gut, das sind Einzelfälle.

Keineswegs. Alle diese Forderungen, alle diese Ansprüche haben als gemeinsame Grundlage den bisherigen Zustand. Machen wir uns klar, daß es eine Ordnung, die die Menschen so sozial abgesichert hätte, wie es der Kommunismus tat, nicht gegeben hat. Höchstens könnte man die Sklavenhaltergesellschaft heranziehen, in der der Sklave in Abhängigkeit von seinem Herrn gehalten und auch ernährt wurde. Das heißt nach denselben Prinzipien wie im Gefängnis. Eine solche absolute Sicherheit gibt es nicht mehr, aber die Leute verlangen sie. Gut, zurück zur Marktwirtschaft und ihren Gegnern. Alle sind irgendwie für die Marktwirtschaft in Polen, eine formulierte Ablehnung gibt es nicht. Nur wenige wissen, welche Veränderungen sie in etwa in diese Marktwirtschaft einbringen wollen. Dagegen haben wir es aber mit einem mächtigen Forderungslager zu tun, mit einer Welle von Forderungen, die die Marktwirtschaft zerstören, wenn sie sich durchsetzen. Unser grundlegendes Problem heißt so: Kann man in Polen überhaupt die Marktwirtschaft unter demokratischen Bedingungen einführen? Vielleicht... Und hier liegt die Versuchung für eine autoritäre Lösung. Das ist noch tief in den Köpfen verborgen. Interview: Ruth Henning

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