INTERVIEW: Innenansichten zur mundtot gemachten „Ansicht“
■ Üder die Zensur des kritischen TV-Magazins „Wzgljad“ äußert sich Moderator Wladik Listjew/ Man setzte den Redakteuren einen Aufpasser mit Parteiabzeichen vor die Nase
taz: Bis Ende letzten Jahres hieß es für über 100 Millionen sowjetische Fernsehzuschauer jeden Freitag abend „Warten auf Wzgljad (die Ansicht)“. Seit dem 28.12.90 ist Wzgljad vom Bildschirm verbannt: Sie, Wladik Listjew, sind einer der Wzglajd -Moderatoren der ersten Stunde. Weshalb mußte sich die Leitung des staatlichen sowjetischen Rundfunks (Gosteleradio) den Groll eines so gewaltigen Teils der Bevölkerung zuzuziehen?
Listjew: Wzgljad hat sich im Laufe seiner dreieinhalbjährigen Existenz von einer eher unterhaltenden Jugend- und Musiksendung zu einem der schärfsten politisch-sozialen Fernsehmagazine des ersten Programms des zentralen sowjetischen Fernsehens entwickelt. Dort waren wir die ersten, die die Wahrheit über Afghanistan gesagt haben. Soziale, politische, wirtschaftliche Themen, die Armee, wurden zunehmend von uns thematisiert — und zwar live. Live-Sendungen waren bis dato für das geschlossene sowjetische Fernsehen völlig untypisch.
Ihre Berichterstattung stieß nicht auf Gegenliebe?
Von Anfang an gab es auch Leute, unter anderem in der Führung von Gosteleradio, denen unsere Sendungen nicht gefielen. Man warf uns tendenziöse Berichterstattung vor, Sensationsjournalismus. Wir verstehen Wzgljad als Beitrag zum Pluralismus. Konkreter Ausdruck unseres Strebens nach Meinungsvielfalt war unsere Rubrik „Konterview“: Vertreter diametral entgegengesetzter Ansichten durften sich vor der Kamera zerfetzen, um sich am Ende die Hände zu schütteln.
Warum gerade jetzt das Aus? Nach dreieinhalb Jahren Wzgljad ? Spielt da die Berufung von Leonid Petrowitsch Krawtschenko zum Vorsitzenden von Gosteleradio eine Rolle?
Die Vorsitzenden von Gosteleradio sind lediglich Figuren, fachlich häufig völlig inkompetente Leute, ehemalige polnische Botschafter oder KGB-Mitarbeiter — Mitglieder der Nomenklatura, allseitig einsetzbar, egal, ob in der Landwirtschaft oder beim Fernsehen. Mit Krawtschenko hat die Partei einen Mann ihres Vertrauens auf den Chefsessel gesetzt, er arbeitet nun zu seinen Gunsten und zu Gunsten jener, die ihn auf diesen Posten geholt haben. Daß Wzgljad gerade jetzt verboten wurde, ist aber meiner Meinung nach eher Widerspiegelung der veränderten politischen Lage in diesem Land.
Das heißt konkret?
Als Wzgljad noch relativ problemlos gesendet werden konnte, begannen in der sowjetischen Gesellschaft gerade die Diskussionen über ein Mehrparteiensystem und die Abschaffung der Führungsrolle der KPdSU. Die Menschen lernten offen zu sagen, worüber sie Jahrzehnte nur geschwiegen hatten. Die Partei war darauf nicht vorbereitet, durchlebte eine Identitätskrise, zerrieb sich. Nur eines war der KPdSU klar: In der Bevölkerung stieß die neue Politik auf breite Zustimmung. In solch einer Situation konnte man keine Sendung verbieten, die gerade diesen Aufbruch repräsentierte. Heute dagegen, beherrscht die Partei das demokratische Vokabular. Nun versucht sie also, verlorenes Terrain zurückzugewinnen, die Spirale zurückzudrehehn. Dafür nutzt Krawtschenko die Vollmachten, die er bei Antritt seines Postens erhielt, Vollmachten von ganz oben, vielleicht sogar vom Präsidenten selbst. Er wurde ermächtigt politisch-soziale Magazine à la Wzgljad oder das Autorenfernsehen im zweiten Kanal bei Bedarf zu ersticken, Informationsverbote auszusprechen oder Jagd auf TSN (eine kritische mitternächtliche Zusammenfassung der wichtigsten Tagesnachrichten — die Red.) zu machen. Krawtschenko will keine anderen Meinungen hören. Interessant ist die Verpackung, die er für seine Behauptungen benutzte. Unsere angebliche Einseitigkeit manifestiere sich darin, daß alle Redaktionsmitglieder Volksdeputierte seien. Lediglich drei Mitglieder des Moderatorenteams sind in Wahrheit Deputierte.
Was war nun schließlich der konkrete Anlaß des Wzgljad -Verbots im Dezember? Es gehen Gerüchte über ein heimliches Interview mit Schewardnadse nach seinem Rücktritt ...
Diese Gerüchte verbreitet Krawtschenko höchstpersönlich und sagt damit bewußt die Unwahrheit. Es war nie die Rede von son einem Interview. Das Wzglajd-Verbot ist eine rein politische Entscheidung.
Die Zuschauer und viele Kulturschaffende haben bestürzt auf das Verbot reagiert.
Ja, doch wir haben auch Briefe von unseren Gegnern erhalten. Fünfzehn Prozent aller Briefe haben Krawtschenko unterstützt, 85 Prozent uns. Außerdem haben viele Kino- und Kulturschaffende in einem offenen Brief an Krawtschenko einen Fernsehboykott verkündet. Sie sind nicht mehr bereit unter diesen Umständen, dem Fernsehen Interviews zu geben, ihre Arbeiten dem Fernsehen zu überlassen.
Wie schätzen Sie die neue Struktur von Gosteleradio ein, seine Präsidentenukas vorsieht, daß bis auf Krawtschenko alle Mitarbeiter der neuen Gesellschaft „freie Mitarbeiter“ sind.
Macht zu verbieten oder zu gestatten, hatte Gosteleradio auch vorher. Die neuen Strukturen sind formale Spielchen, die an den konkreten Macht- und Arbeitsverhältnissen nichts ändern.
Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie, Wzgljad auf den Bildschirm zurückzuholen?
Den von uns eingeschlagenen Weg eines Gerichtsprozesses. Wir haben Anzeige gegen Gosteleradio erstattet. Diese Anzeige wird z.Z. von der Staatsanwaltschaft geprüft. In zwei bis drei Monaten wissen wir, ob ein Gerichtsverfahren eröffnet wird. Ein Präzedenzfall in der Geschichte der Sowjetjustiz. Auch hier sind wir die ersten und und mit als erste wären wir auch im russischen Staatsfernsehen mit von der Partie — falls es eingerichtet würde. Es ist natürlich ein Unding, daß die größte Föderationsrepublik (als einzige — die Red.) kein eigenes Fernsehen hat, sondern dem zentralen untersteht. Sollte der zweite Kanal für das russische Staatsfernsehen freigegeben werden — darum wird im Moment verhandelt—, würden mit 99prozentiger Sicherheit die besten Köpfe von Gosteleradio dorthin überwechseln. Interview: Gabriele Lüke
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